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Thomas Nagel: „Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist.“

Frankfurt: Suhrkamp-Verlag, 2013, 187 S.

Nachfolgend eine Rezension von Markus Widenmeyer:

Gosses Bild

Eine weitreichende Kritik an der heute dominanten materialistischen Weltanschauung und der Entschluss, trotzdem am Atheismus bzw. Naturalismus festzuhalten, bilden den Spannungsbogen des 2012 im amerikanischen Original erschienenen Buches Mind and Cosmos. Autor ist der amerikanische Philosoph Thomas Nagel (Jg. 1937). Inhaltlich betrifft Nagels Kritik die materialistische Deutung der Welt auf verschiedenen Feldern. Soziologisch kritisiert Nagel einen materialistischen Dogmatismus, der Kritiker unter Druck setzt und ausgrenzt. Nagels Gegenentwurf sieht vor, bereits den Grundbestandteilen des Universums gewisse geistige Merkmale und Zielorientierung zuzuschreiben. Zu würdigen sind Nagels Mut, die dominante Weltanschauung in Frage zu stellen, und seine intellektuelle Redlichkeit. Seine gleichsam pantheistische Version des Naturalismus, die die nötigen göttlichen Eigenschaften in die Natur projiziert, ist jedoch unhaltbar.

Kritik an der materialistischen Weltsicht

Nagels inhaltliche Kritik bezieht sich auf folgende Punkte:

  • Die Unmöglichkeit, das Geistige letzten Endes als etwas Nichtgeistiges (Physikalisches, Materielles) auszuweisen (psychophysischer Reduktionismus1).
  • Die immensen Schwierigkeiten, die Entstehung des Lebens und der Arten allein durch nichtgerichtete Prozesse verständlich zu machen.
  • Das Problem angesichts des Materialismus, wie unsere kognitiven Fähigkeiten zuverlässig sein können.
  • Das Problem, wie es eine objektive Moral geben kann.

Die nachfolgende Darstellung beschränkt sich auf die Gebiete des Geistigen und der Entstehung der Lebewesen.

Geist

Das aktuelle Geist-Körper-Problem resultiert für Nagel aus der neuzeitlich-wissenschaftlichen Revolution. Das „Konzept einer objektiven physikalischen Realität“ beinhaltete gleichzeitig einen strikten Ausschluss des Geistigen und Teleologischen (Zielgerichteten) aus dem Bereich des Physikalischen, das stattdessen blind mathematisch formulierbaren Gesetzen folgt. Der Dualismus Descartes‘ bringt diese strikte Trennung von Körperlichem und Geistigem zum Ausdruck: Der Bereich der Physik und der des Geistigen besitzen jeweils eine eigene Seinsgrundlage, keines kann auf das andere zurückgeführt (reduziert) werden, auch wenn es freilich Wechselwirkungen gibt. Das Geist-Körper-Problem entsteht nun durch einen „ununterdrückbaren Wunsch“ nach einer einheitlichen „Weltanschauung“ (Nagel verwendet den deutschen Ausdruck), in der alle Ausstattungsmerkmale der Welt strikt innerweltlich zu erklären sind. Dies ist der Naturalismus, dessen Welt- oder Naturbegriff sich unter dem neuzeitlichen Paradigma auf die genannte physikalische Realität bezieht. Mit dem Versuch, das Geistige als etwas Physikalisches und somit als eine Variante des Nicht-Geistigen zu beschreiben (Physikalismus, Materialismus), begann eine Serie des Scheiterns. Letztlich verfehlen diese Ansätze genau das, was sie eigentlich zu erklären beanspruchen – und was mit guten Gründen von Descartes und anderen aus der Physik herausgehalten wurde: Das Geistige.

Neben der Schwierigkeit, dass es Bewusstsein überhaupt gibt („konstitutiver“ Aspekt), verweist Nagel auf das zusätzliche Problem, wie sein erstmaliges Erscheinen im Laufe der Naturgeschichte verständlich gemacht werden kann („historischer“ Aspekt). Insofern Nagel an einer (wenn auch ergänzten) evolutionären Sichtweise festhält, müsste dies eng mit einer Evolution der Organismen zusammenhängen, die Bewusstsein haben. Eine auf Physik und Chemie reduzierbare Evolutionslehre könnte aber bestenfalls das Entstehen des Nervensystems und der Verhaltensweisen der Organismen beschreiben. Subjektivität und Bewusstsein sind aber etwas ganz anderes und könnten kein Teil einer solchen Beschreibung sein. Es ist inakzeptabel zu sagen, dass die Evolution einfach Wesen mit Sinnesorganen, Nervensystem und so weiter hervorgebracht habe und dass diese Wesen nun einmal Bewusstsein hätten. Einfach nur eine (mutmaßliche) Ursache anzugeben ist keine Erklärung, wenn man überhaupt nicht versteht, warum diese Ursache diesen Effekt hervorbringt. Nagel nennt einen solchen Ansatz eine „just-so story“. Eine letztlich auf Physik und Chemie basierende Evolution erklärt also das Auftreten des Geistigen nicht.

Es muss mehr als Physik geben. Sonst wäre
das Auftauchen des Geistigen geradezu Magie.

Nagel stellt fest: Es muss mehr als Physik geben. Sonst wäre das Auftauchen des Geistigen geradezu Magie. Ein rationaler Ansatz müsste zeigen, wie geistige Wesen systematisch in der Welt eingegliedert und aufgetaucht sind. Geist kann kein Nachkömmling, Zufall oder Anhängsel einer ansonsten rein physikalischen Realität sein. Dieser Umstand bedroht das ganze naturalistische Weltbild und es ist schwierig, (naturalistische) Alternativen zu sehen. Im Rahmen einer innerweltlichen Erklärung müssten Organismen mit Bewusstsein genauso vollständig Teil der Natur sein wie alle anderen Dinge. Daraus folgt aber, dass im Rahmen des Naturalismus das Verständnis der Natur generell unvollständig ist – ihr müssen irgendwie gleichsam geistige Merkmale zugeschrieben werden.

Entstehung des Lebens und der Arten

Für Nagel ist ebenso der materialistische Ansatz, wie Leben aus toter Materie entstanden sein soll, unglaubwürdig, einschließlich der Standardvorstellung, wie Evolution funktioniert. Es fehlt ein glaubhaftes Argument für eine nicht vernachlässigbare Wahrscheinlichkeit dafür, dass zufällige Prozesse bzw. Mutationen die Bandbreite an geeigneten Phänotypen hervorbrachten, die für eine evolutionäre Geschichte nötig ist. Und je weiter unser Wissen über das Leben wächst, desto schwieriger wird es. Nagel würdigt ausdrücklich Michael Behe und Stephen Meyer (Discovery Institute2) und ihre Argumente. Sie zeigen in wissenschaftlicher Weise die geringe Wahrscheinlichkeit der Entstehung des Lebens und seiner Entwicklung auf rein materieller Basis.

Wie müsste eine Erklärung hier aussehen? In historischen Erklärungen ist zwar immer Zufälligkeit enthalten. Aber deshalb kann man nicht sagen: „Irgendetwas musste passieren, warum nicht auch die Entstehung von Lebewesen und Bewusstsein?“ Systematische Eigenschaften der Natur, Regelmäßigkeiten, Muster und funktionale Merkmale dürften keine Zufälle sein, sondern sie erfordern ebenso eine systematische Erklärung – umso mehr, je häufiger sie sind. Wenn wir so etwas sehen, schließen wir, dass etwas Unbekanntes dahinterstecken muss, was diese Phänomene dann erklärbar macht. Nagel erläutert dies so: Haben wir ein Ereignis eines ganz bestimmten Typs, für das zahlreiche Einzelereignisse verantwortlich sind, und wir haben für diese Einzelereignisse jeweilige, prinzipiell mögliche Einzelerklärungen, dann ist das spezifische Ereignis dadurch noch lange nicht erklärt. Denn eine Erklärung muss zeigen, dass es wahrscheinlich war, dass ausgerechnet das Ereignis dieses Typs stattfand. Es gibt z. B. eine komplexe physikalische Erklärung, warum ein Taschenrechner, nachdem wir die Tasten „3“, „+“, „5“ und „=“ tippen schließlich auf dem Display „8“ anzeigt. Aber die physikalische Erzählung als eine „just-so story“ reicht nicht. Warum zum Beispiel liefert der Rechner eine „richtige“ Antwort? Für die Erklärung müssen wir den Algorithmus berücksichtigen und die Absichten des Designers. Eine physikalische Erzählung ohne Designer und Zweck wäre hier mysteriös.

Nagel stellt fest: Die Schwierigkeiten des heutigen Naturalismus werden nicht ernst genug genommen. Egal, was man über einen Designer denkt: Die vorherrschende Doktrin ist nicht unantastbar.

Soziologische Kritik

Nagel kritisiert am herrschenden Materialismus zweierlei: Erstens eine unkritische, dogmatische Haltung und zweitens das Unterdrucksetzen von Kritikern. Die reduktionistische Sichtweise wird als selbstverständlich genommen, obwohl klar ist, dass wir wesentliche Dinge nicht verstehen. Szientistische Naturalisten wollen festlegen, welche Form zukünftige Erklärungen haben: Sie müssen vereinbar mit dem Materialismus sein. Bis dahin werden spekulative Erklärungen im Sinne eines „Lückenbüßer-Materialismus und -Darwinismus“ präsentiert. Dieses Vertrauen des wissenschaftlichen Establishments ist nur als Manifestation einer unumstößlichen Verpflichtung auf den Materialismus nachvollziehbar. Diese ist teilweise

Die reduktionistische Sichtweise wird als selbstverständlich genommen, obwohl klar ist,
dass wir wesentliche Dinge nicht verstehen.

dem Pathos der Befreiung von der Religion geschuldet. Dabei ist der zeitgenössische Materialismus bis unter die Zähne bewaffnet und seine Etablierung ist ein heroischer Triumpf einer Ideologie über den gesunden Menschenverstand. Fast jeder in unserer säkularen Kultur wurde eingeschüchtert, damit er das reduktive Forschungsprogramm als unantastbar anerkennt. Alles andere darf nicht als wissenschaftlich gelten. Aus diesem Grunde ist Kritik an der materialistischen Voraussetzung für viele Leute unerhört. Kritiker wie die Intelligent Design-Forscher Michael Behe und Stephen Meyer werden unfair behandelt und geächtet, obwohl ihre Argumente wissenschaftlich qualifiziert sind.

Panpsychismus und Naturteleologie – Alternative zum Theismus?

Die theoretischen Schwierigkeiten entstehen dadurch, dass die Welt als grundlegend physikalisch angesehen wird. Nagel hofft, dass die Dinge lediglich unerklärlich und zufällig erscheinen, insofern es weitere Tatsachen gibt, die wir noch nicht kennen und die über Physik hinausgehen. Für Nagel sind dies innerweltliche Tatsachen, fundamentale Merkmale des Universums. Ein Konsens zwischen Intelligent-Design-Vertretern und ihren materialistischen Gegnern ist aber, dass die einzige Alternative zum Theismus ein reduktionistischer Naturalismus ist, der alle Ausstattungsmerkmale der Welt vollständig auf eine nichtgeistige, materielle Realität zurückführen will. Nagel kann sich diesem Konsens nicht anschließen: Er lehnt sowohl den Reduktionismus als auch den Theismus ab.

Warum lehnt Nagel den Theismus ab? Da ist zum einen der Wunsch nach einer einheitlichen innerweltlichen Ordnung, welche die Ausstattungsmerkmale der Welt verständlich macht. Dies ist aber kein Sachargument. Ein zweiter Grund ist Nagels Hoffnung, dass die neue Version des Naturalismus vereinheitlichender wäre als die Design-Theorie. Diese Hoffnung wird aber nicht weiter begründet. Und sie ist unberechtigt: Insofern Nagels Konzept sowohl physikalische als auch die quasi-geistigen Attribute als grundlegend ansieht, ist es weniger einheitlich als der Theismus, der alles aus einem Ursprung erklärt. Drittens meint Nagel, dass der göttliche Geist als Endpunkt der Erklärungen genauso ungeeignet ist wie der klassische materialistische Ansatz. Auch dies ist unbegründet. Nicht-geistige Ursachen sind gegenüber geistigen in wichtigen Hinsichten defizitär. Erklärungen, die auf geistige Ursachen zurückgreifen, erklären Sachverhalte wesentlich in Bezug auf Zwecke und Resultate und ggf. eine passende Wahl der Mittel, während nicht-geistige dies nicht tun und auf Mechanismen angewiesen sind, die z. B. in Bezug auf das Resultat per se blind sind. Viertens würde eine theistische Erklärung uns kein vollständiges Verständnis der Welt liefern. Die Dinge wären zwar für den göttlichen Geist völlig verständlich, für den menschlichen aber nur teilweise. Diese Aussage ist teilweise richtig. Aber sie ist kein Argument gegen den Theismus. Der Naturalismus (zumindest in der vorliegenden Form) ist noch weniger verständlich, was ja Nagels Ausgangspunkt ist. Außerdem ist es unrealistisch, dass wir Menschen jedes Merkmal der Welt verstehen können. Viel wichtiger für eine plausible Weltanschauung ist, dass sie Gründe dafür liefert, dass diese Merkmale nicht mit riesigen Unwahrscheinlichkeiten oder gar Absurditäten einhergehen.

Nagels Version eines erweiterten Naturalismus ergänzt den physikalischen Kosmos vor allem um zwei Dinge: Erstens um gleichsam geistige Merkmale der grundlegenden Bestandteile des Kosmos und zweitens um eine reine Naturteleologie, also um Naturzwecke ohne Zwecksetzer. Die geistigen Merkmale, die er zum Beispiel „protopsychisch“, „monistisch“ oder „panpsychistisch“ nennt, sollen sich bei geeigneten physischen Konstellationen zu Geist zusammensetzen, wie er bei „höheren“ Tieren und schließlich beim Menschen vorkommt. Das Geistige wäre dann auf diese Merkmale seiner Grundbestandteile auf verständliche Weise zurückführbar. Und die Naturteleologie soll die Schwierigkeiten der Entstehung und Entwicklung des Lebens und zudem der Lebewesen mit Bewusstsein und Geist lösen. Die natürlichen Vorgänge würden aktiv Ziele anstreben und z. B. die riesige Anzahl möglicher Ausgänge physikalischer Prozesse günstig einschränken.

Nagels Lösungsansatz ist jedoch unhaltbar. Jede Form des Geistigen setzt Subjektivität, also ein Zentrum oder „Ich“, auf das Bewusstseinsinhalte stets bezogen sein müssen, notwendig voraus. Einen Gedanken, den niemand denkt, oder ein Schmerz, den niemand hat, kann es nicht geben. Die grundlegenden Bestandteile des Kosmos wären entweder gar nicht geistig – und die von Nagel erwähnten Schwierigkeiten blieben vollumfänglich bestehen – oder sie wären reale geistige Subjekte. Zweitens sind geistige Subjekte einheitlich und im Gegensatz zu physikalischen Dingen nicht aus konkreten Teilen zusammengesetzt. Dies ist ein schwerwiegendes Hindernis naturalistischer Konzepte des Geistes, mit dem Nagel unverändert konfrontiert ist, da er den Geist genauso als etwas Zusammengesetztes betrachten muss. Genausowenig kann es eine Naturteleologie ohne Zwecksetzer bzw. Designer geben. Zwecke sind Vergegenwärtigungen (Repräsentationen) von oft künftigen Weltzuständen. Aber nur geistige Subjekte können Weltzustände vergegenwärtigen. Um tatsächlich z. B. eine biologische Zelle zustande zu bringen, wären überdies außerordentliche kognitive Fähigkeiten nötig, die sogar die der besten heutigen Chemiker und Biologen übertreffen. Nagel gibt zu, dass er von einer solchen Naturteleologie ohne handelndes Subjekt selbst nicht überzeugt ist.

Würdigung

Nagel räumt ein, dass es im schlimmsten Fall doch keine umfassende und in sich rational verstehbare natürliche Ordnung geben könnte. Tatsächlich muss Nagel wesentliche Eigenschaften des göttlichen Geistes in sein Konzept der Natur projizieren – nur der Geist selbst, der für die Existenz dieser Eigenschaften nötig ist, ist für ihn keine Option. Es ist aber anzuerkennen, dass Nagel hier eine persönliche, „unbegründete Voraussetzung“ bekennt, die einen Designer für ihn ausschließt: „Mir fehlt der sensus divinitatis“. In seinem früheren Buch Das letzte Wort schrieb er:

„Ich spreche hier von etwas viel Tieferem, nämlich von der Angst vor der Religion selbst. […] Ich will, dass der Atheismus wahr ist und es bereitet mir Unbehagen, dass einige der intelligentesten und am besten unterrichteten Menschen, die ich kenne, im religiösen Sinne gläubig sind. […] Ich will, dass es keinen Gott gibt; ich will nicht, dass das Universum so beschaffen ist.“

Nagels Redlichkeit kommt auch darin zum Ausdruck, dass er Kritikern des Naturalismus wie Michael Behe oder Stephen Meyer fair und sachlich begegnet. Es ist zu wünschen, dass auch andere diesem Beispiel folgen. Erfahrungsgemäß ist aber eher zu erwarten, dass das naturalistische Imperium zurückschlägt und versucht, auch Thomas Nagel zu diskreditieren und aus der offiziell seriösen „Wissenschaft“ auszugrenzen. Bisherige Reaktionen bestätigen leider genau das, auch wenn es erfreulicherweise auch Ausnahmen gibt.

(Studium Integrale Journal, 20. Jahrgang / Heft 2 – Oktober 2013, Seite 124 – 126)

Anmerkungen


1 Nagel hat in seiner frühen Phase selbst den Reduktionismus vertreten, zum Beispiel: Physikalismus in: Bieri, P., Analytische Philosophie des Geistes, Weinheim, 1997 (Original 1965). Im Jahr 1974 hat er dann im Aufsatz What is it like to be a bat? (1974) bereits wesentliche Schwierigkeiten des Naturalismus in Bezug auf die Subjektivität bewusster Wesen herausgearbeitet.
2 Die Mitarbeiter des Discovery Institute vertreten mit dem Ansatz des „Intelligent Design“ eine geistige Verursachung der Lebewesen, also eine nicht näher spezifizierte Schöpfung.