David Gooding & John Lennox: „Was ist der Mensch?“
Würde, Möglichkeiten, Freiheit und BestimmungChristliche Verlagsgesellschaft Dillenburg, 380 Seiten, 24,90 Euro
Nachfolgend eine Rezension von Harald Binder:
Der 1943 in Nordirland geborene Mathematiker John Lennox lehrte zunächst in Wales und dann bis zu seiner Emeritierung an der Universität Oxford. Er war zu Forschungsaufenthalten auch in der ehemaligen Sowjetunion, hat dort in russischer Sprache gelehrt und auch Werke russischer Mathematiker ins Englische übersetzt. Als bekennender Christ, der sich intensiv mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Glaube auseinandergesetzt hat, trägt er bis heute vor allem vor akademischem Publikum darüber vor und führt öffentliche Diskussionen.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde die Notwendigkeit offenbar, neue Orientierungsmöglichkeiten und Lehrmaterial zur umfassenden Bildung junger Menschen verfügbar zu machen. Gemeinsam mit seinem Mentor, dem Theologen David Gooding (1925–2019), der bis zu seiner Emeritierung an der Queen´s University in Belfast Professor für alttestamentliches Griechisch war, hat John Lennox die Herausforderung angenommen und ein mehrbändiges Werk zur grundlegenden Bildung für Studenten verfasst. Dieses Werk ist 2018 bei Myrtlefield Trust unter dem Titel: “The Quest of Reality and Significance“ erschienen. Nun hat es die Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg (unterstützt durch das Institut für Glaube und Wissenschaft und die VEBS-Akademie) gewagt, das Werk zu übersetzen und in deutscher Sprache herauszugeben; der erste Band „Was ist der Mensch?“ liegt vor. Band 2 „Was können wir wissen?“ (ursprünglich Band 3) ist für Oktober 2020 angekündigt.
Bereits im Vorwort machen die beiden erfahrenen Lehrer deutlich, dass ihr Ziel nicht irgendein spezifisches Lehrbuch für Anthropologie ist, sondern dass sie ein Werk vorlegen möchten, das jungen Menschen Hilfestellung gibt bei der bewussten Gründung des persönlichen Welt- und Menschenbildes. Lennox und Gooding wollen dazu anleiten, grundlegende Fragen zu stellen und Antworten, die in der Vergangenheit von Menschen unterschiedlicher Denktraditionen und aus unterschiedlichen Kulturen gegeben worden sind, zu verstehen, reflektieren, kritisch zu prüfen und dadurch die eigene Position zu begründen. Dabei geben sich die Autoren im Vorwort als Christen zu erkennen und machen damit deutlich, dass ihre persönliche Charakterbildung sie zu einer spezifischen Position geführt hat und dass sie eine persönliche Entscheidung für ein bestimmtes Weltbild getroffen haben.
In einem einleitenden Kapitel zur gesamten Serie legen die Autoren ihre Vorgehensweise dar und erläutern diese ausführlich. In sieben Kapiteln wird die Titelfrage „Was ist der Mensch?“ entfaltet. Im ersten Kapitel geht es um den Wert des Lebens, den Grundwert des Menschen vor dem Hintergrund von Kindstötungen in der Gegenwart und verschiedenen Massakern in der Geschichte. Abschließend wird in diesem Kapitel auch die Transzendenz menschlichen Lebens thematisiert.
Im zweiten Kapitel widmen sich die Autoren der Freiheit als einem sehr hohen Gut des Menschen und deren Gefährdung. In der ausführlichen Aufnahme marxistischer Aspekte spiegelt sich der oben erwähnte Anlass zur ursprünglichen Herausgabe des Werkes wider, wobei das marxistische Gedankengut bei Denkern überall auf der Welt Spuren im Hinblick auf das Menschenbild hinterlassen hat.
Das Thema Moral wird in den beiden folgenden Kapiteln behandelt, wobei im dritten zunächst Wesen und Grundlagen von Moral entfaltet werden. Dabei werden auch Gewissen und Scham thematisiert, bis hin zur Frage, ob Moral objektiv ist. Im vierten Kapitel werden verschiedene Moralvorstellungen angeführt und mit einander verglichen. Hier werden zunächst einflussreiche Biowissenschaftler zitiert und die Folgen dargelegt, die sich absehbar aus ihren Positionen ergeben. Im letzten Teil dieses Kapitels analysieren die Autoren die Einwände gegen die Hypothese, dass Gott die Autorität hinter moralischen Maßstäben sei.
Das fünfte Kapitel widmen die Autoren der eigentlichen Titelfrage nach dem Menschen. Dabei streifen sie kurz Körper und Geist des Menschen sowie das Phänomen des Bewusstseins. Zu den damit im Zusammenhang stehenden Fragen werden die Antworten einer Reihe von philosophischen Positionen vorgestellt und abschließend auch in der Bibel offenbarte Aussagen zur Sprache gebracht. Dabei werden auch Aspekte der Herrschaft des Menschen über die Natur angesprochen. Im folgenden Kapitel werden die Grenzen dieser Machtausübung angesprochen. Nach einem kritischen Blick in die Geschichte werden auch Fragen über den Ursprung der Würde des Menschen und seiner Rechte nachgegangen. Dabei kommt auch die Rolle der Religionen angesichts der Unzulänglichkeiten und Schwächen von Menschen zur Sprache und wie verschiedene Religionen damit umgehen. Die Autoren stellen sich zum Abschluss dieses Kapitels auch der Diskrepanz, die zwischen biblischen Aussagen zum Menschen und dem Verhalten von Christen im Verlauf der Kirchengeschichte bestehen.
Im siebten Kapitel wird der Blick in die Zukunft gerichtet. Dabei beschränken sich Gooding und Lennox auf die Darlegung und Erläuterung biblischer Perspektiven.
Der 35 seitige Anhang zur Frage „Was ist Wissenschaft?“ dürfte vor allem aus der Feder von John Lennox stammen. Dieser Anhang ist durchaus angemessen, da im Hauptteil des Buches wissenschaftliche bzw. sich wissenschaftlich nennende Positionen angeführt werden. In bewährter Weise wird die Faszination und Leistung vor allem naturwissenschaftlicher Forschung vorgestellt, aber auch sehr klar ihre Grenzen benannt.
Das Buch enthält eine ausführliche Bibliographie und der Lehrbuchcharakter spiegelt sich in dem abschließenden Teil wider, in dem die Autoren zu jedem Unterkapitel Fragen formuliert haben. Diese Fragen zielen vor allem darauf, dass der Leser sich über seine persönliche Position hinsichtlich der angesprochenen Punkten klar wird und eigene Antworten formuliert.
Der Rezensent hat sich bei der Lektüre an manchen Stellen gefragt, warum beispielsweise einige Philosophen nur kurz namentlich angeführt werden (z. B. W. V. O. Quine, S. 216) ohne auf ihre Positionen einzugehen. In einem europäischen Kontext vermisst er auch Stimmen, wie z.B. die des im Vorwort des Verlags zur deutschen Ausgabe erwähnten Jürgen Habermas (Auch eine Geschichte der Philosophie, 2019). An einflussreichen Stimmen könnte auch der israelische Historiker N. Y. Harari mit seinen beiden Bestsellern „Homo sapiens – eine kurze Geschichte der Menschheit“ und „Homo deus – eine Geschichte von Morgen“ oder der indische Philosoph V. Mangalwadi mit seinem Werk „Das Buch der Mitte“ Platz finden. An der einen oder anderen Stelle wünschte man sich eine intensivere Auseinandersetzung mit den verschiedenen Positionen.
Bei den erwähnten offenen Wünschen bleibt zu berücksichtigen, dass es sich um ein Lehrbuch im besten Sinn des Wortes handelt und in einem solchen ist Aktualität nicht das erste Kriterium und bei den wichtigen Positionen muss nicht zuletzt aus pädagogischen Gründen eine Auswahl getroffen werden. Die ausgewählten Stimmen kann man kritisieren, aber insgesamt zeigt sich darin, wie bereits erwähnt, die enorme Erfahrung der beiden Autoren als akademische Lehrer.
Bei aufmerksamer Betrachtung der Bildungslandschaft in Deutschland treten auch gerade im Hinblick auf Vorbilder und Vermittlung beim Themenfeld „Mensch“ hinsichtlich seiner Würde, der Werte, des Menschen- und Weltbildes einige Untiefen ins Licht: In Unterricht und Lehre stehen Entgrenzungen (z. B. in Geschlechterfragen) auf der Tagesordnung, Vorbildfunktion wird für unnötig erklärt und häufig verweigert. Nicht nur deshalb ist dem Lehrbuch von Gooding und Lennox eine weite Verbreitung, intensive Lektüre und Nutzung zu wünschen!