Ramapithecus – Vorfahr des Menschen?
Sigrid Hartwig-Scherer
Inhalt
II. Überblick: Zur Geschichte einer Fossildeutung
- Deutungswandel von Daten
- Ramapithecus als Vorfahre des Menschen
- Kritik am hominiden Status
- Molekularbiologische Befunde und neue Fossilien
III. Vom Vorfahren des Menschen zum Vorfahren des Orang-Utan
- Ein halbes Jahrhundert menschlicher Vorfahr: Ramapithecus zwischen 1934 und 1980
Elwyn Simons popularisiert eine alte Interpretation
Pilbeam schließt sich an
Konkurrenz aus Afrika: Kenyapithecus alias Ramapithecus - Kritische Anfragen
Wie menschlich ist der Kieferbau?
Probleme mit den Zähnen
Was ist ein Merkmal wert?
Schlußfolgerung - Neue Funde und neue Vorstellungen
Erste Anzeichen einer Neuorientierung
Einfluß der Molekularbiologie
Funde aus der Türkei
Der Umschwung kommt aus Pakistan - Der Orang-Utan im Rampenlicht – Probleme mit der Merkmalswertung
Ähnlichkeit, Verwandtschaft und Klassifikation Wie menschlich ist der Orang?
Merkmale im Wandel der Zeit – abgeleitet oder ursprünglich, homolog oder parallel? - Die chinesischen Fossilien aus Lufeng
Wieder neue Vorstellungen – ein Überblick
Geschlecht oder Art?
Asiatische Ahnen für afrikanische Menschenaffen?
… oder doch ein Vorfahre des Menschen?
IV. „The more you know the harder it is“
Literatur
Anhang
- Kurzbeschreibung der ramamorphen Fossilien
- Klassifikation heutiger Menschenaffen
- Glossar mit Skizze zur Schädelanatomie
- Autorenregister
Dank
Einleitung
Hypothesen zur Herkunft des Menschen stehen schon lange im Brennpunkt menschlichen Interesses. Fragen, die das Woher und Wohin von Homo betrafen, induzierten verschiedenste Lösungsvorschläge, deren Auswirkungen mehr oder weniger in alle Bereiche unseres Lebens hineinreichten. Seit Darwin wurden auf der Grundlage der evolutionistischen Weltsicht verschiedene Variationen menschlicher Entwicklung diskutiert. Die derzeit im populärwissenschaftlichen Schrifttum am weitesten verbreitete Vorstellung ist in Abb. 1 skizziert. In der Regel wird die große Gruppe der Primaten, zu denen sowohl die Halbaffen (Feuchtnasenaffen) als auch die eigentlichen Affen (Trockennasenaffen) gehören, auf unspezialisierte, insektenfressende Säuger zurückgeführt. Als Vorfahrengruppe der heutigen Menschenaffen und Menschen (Hominoldea) gelten Vertreter der Dryopithecinen (Proconsul), eine fossile menschenaffenähnliche Gruppe aus dem Oligozän und Miozän. Besondere Aufmerksamkeit wurde jedoch vor allem der Suche nach den direkten Vorfahren des Menschen gewidmet, dem eigentlichen Zielpunkt vieler Diskussionen. Ramapithecus, von dem Fossilreste aus miozänen Ablagerungen geborgen wurden, galt lange als erster sogenannter Hommide, d.h. als direktes Glied in der Vorfahrenreihe des Menschen. In der Fossilüberlieferung klafft gerade im Miozän eine große Fundlücke. Ab dem Pliozän folgen die Australopithecinen im Fossilbefund. Diese werden von den meisten heutigen Paläanthropologen in die Familie der Menschenartigen eingeschlossen, auch wenn sich in letzter Zeit die Einwände gegen einige der „menschlichen“ Eigenschaften mehrten. Zwischen dieser Gruppierung und dem „echten Menschen“ vermittelt aus evolutionstheoretischer Sicht der außerordentlich kontrovers diskutierte habilis-Komplex aus plio/pleistozänen Schichten. Die stratigraphische und zeitliche Einordnung dieser für die Evolutionsvorstellung wichtigsten Fossilformen ist in Abb. 1 zusammengestellt. Für eine hervorragende Darstellung aktueller Hypothesen aus dem Bereich der Humanevolution sei auf das Buch von Roger Lewin (1984) verwiesen.
In dieser Arbeit werden die Fossilien diskutiert, die im Laufe der Interpretationsgeschichte mit dem ersten Hominiden Ramapithecus in Verbindung gebracht wurden. Kapitel 2 versteht sich als zusammenfassender, auch allgemein verständlicher Abriß dieses vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt aus hochinteressanten Forschungskomplexes der Anthropologie. Im ersten Teil des dritten Kapitels wird die historische Entwicklung nachgezeichnet, die Ramapithecus zum Vorfahren des Menschen machte, in einer synoptischen Gegenüberstellung werden die Merkmale, die zur Diagnose „hominid“ führten, sowie ihre Kritik diskutiert. Schließlich werden die neuesten Funde aus dem Kreis der Ramamorphen zusammen mit den verschiedenen in der Literatur vorgeschlagenen phylogenetischen Interpretationen vorgestellt. Wieviele Emotionen dieser immer noch nicht ganz abgeschlossene Abschnitt paläanthropologischer Geschichte in der Vergangenheit wachrief und auch noch heute weckt, deutet der Titel eines Vortrages an, den C. Vogel 1984 auf dem Münchner Anthropologenkongreß hielt: „Ramapithecus – Aufstieg und Fall einer Legende.“