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Grönländische Eisbohrkerne und ihre Interpretation: Absolute Datierung durch Zählung von Jahresschichten? (3. Auflage)


Artikel als PDF-Datei (90 Seiten, 16612 KB, Stand: 23.11.2022)

Fragestellung

Die Tiefbohrungen in das grönländische Inlandeis dienen hauptsächlich einem Zweck: der Rekonstruktion des Klimas[1] der Vergangenheit. Ohne eine zeitliche Verankerung aber sind die gewonnenen Klimadaten, so glaubt man, nutzlos. Der Aufstellung von Eiskernchronologien und deren absolut-zeitlichen (jahrgenauen[2]) Eichung kommt deshalb eine essentielle Bedeutung zu. Die dabei angewendeten Datierungsmethoden sind überwiegend Eigenentwicklungen der Eiskern-Bearbeiter. Hammer et al. (1986) definieren Eiskerndatierung methodisch ausschließlich bezogen auf eine Jahresschichtenzählung: „Eiskerndatierung ist eine unabhängige Methode absoluter Datierung auf der Basis der Zählung von individuellen Jahresschichten in großen Eisschilden.“[3] Werden die Altersangaben zu den gewonnenen Eiskernen betrachtet – 100.000 Jahre und mehr[4],[5] –, stellt sich die Frage, wie diese Alter konkret ermittelt worden sind, was sie bedeuten und ob es sich in der Tat und ohne Einschränkung um eine unabhängige wie auch absolute Datierungsmethode handelt.

 

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

(1)     Eiskerne des grönländischen Inlandeises erlauben über geochemische Indikatoren (Chemo-, Isotopenstratigraphie) und vulkanische Aschenlagen (Tephrostratigraphie) eine Einbindung in die Quartärstratigraphie (oberstes Pleistozän, Holozän).

(2)     Die Datierung von Eiskernen erfolgt hierarchisch:

(2a)   Klimatostratigraphische Korrelation und Verankerung in die Quartärstratigraphie.

(2b)   Übernahme von zwei radiometrisch geeichten Altersfixpunkten der quartär-geologischen Zeitskala und Übertragung auf konkrete Ereignispunkte der Eissäule; Konstruktion (Approximation) einer (zenti-)meter- bzw. „jahrgenauen“ Tiefen-Alters-Beziehung durch Kalkulation unter Anwendung eines physikalischen Eisflussmodells.

(2c)   „Jahresschichtenzählung“: Die Anzahl auszuweisender Einzel-„Jahre“ ist durch die radiometrische Eichung im Wesentlichen vorbestimmt. Durch Fixierung der notwendigen Skalen- bzw. „Jahres“einheiten über entsprechende Auflösungen stratigraphischer und/oder physikochemischer Signale wird eine „jahrgenaue“ Zeitskala konstruiert (Eiskernchronologie). Ohne den Nachweis in der Hauptsache erbracht zu haben, werden die Signale mit „Jahren“ und „Jahresschichten“ assoziiert bzw. als solche interpretiert.

(2d)   Differenziert zu betrachten sind die Sauerstoffenisotopen-Feinoszillationen, die sich vom Top des Eisschildes je nach Lokalität bis einige Hundert Meter Tiefe erhalten haben. Hier ist eine echte jahreszeitliche Prägung in den obersten Teilen der Eissäule nachgewiesen (-> Punkt 3).

(3)     Eine zusammenfassende Grönland-Eiskernchronologie ist 2005 für den Skalenbereich 60.000 bis 0 [Eiskern-] Jahre b2k (vor dem Jahr 2000) erstellt worden. Für den Skalenbereich 3835 bis 0 [Eiskern-] Jahre b2k ist 2021 eine Revision unternommen worden. Dieser Skalenbereich ist von besonderem Interesse.

(3a)   Eine unabhängige Verifizierung der Grönland-Eiskernchronologie – z. B. durch die Identifizierung von vulkanischen Aschenlagen historisch bekannten Alters – hat bislang eine Bestätigung der Validität zurück bis in das 8. nachchristliche Jahrhundert ergeben. Demnach können die ersten ca. 1225 Eiskernjahre prinzipiell mit Kalenderjahren gleichgesetzt werden, auch wenn punktuell kleinere Differenzen von wenigen Jahren vorliegen mögen. Für den Skalenbereich > 1225 [Eiskern-] Jahre b2k ist die Validität der Grönland-Eiskernchronologie (2005/2021) bislang nicht bekannt.

(4a)   Bei den Altersangaben zu den ältesten Abschnitten der gewonnenen Eiskerne, ca. 90.000 bis 250.000 Jahre, handelt es sich nicht um Kalenderjahre, sondern um radiometrische bzw. radiometrisch geeichte „Jahre“. Dasselbe gilt für das Datum der Pleistozän/Holozän-Grenze; die 11.700 [Eiskern-] Jahre sind 14C-begründet.

(4b)   Da für den Skalenbereich > 5000 radiometrische Jahre BP nicht bekannt ist, in welcher Beziehung 14C-Alter und weitere radiometrische Alter zum realen Alter stehen (Kotulla 2019a, 2020), können radiometrische Alter nicht mit realem Alter gleichgesetzt werden.

(5)     Die Eiskerndatierung in ihrer Gesamtheit ist im Gegensatz zur Aussage bzw. zum Anspruch von Hammer et al. (1986) – s. Kapitel 1 – weder ein unabhängiges noch ein absolutes Datierungsverfahren. Eine quasi-absolute Datierung durch Zählung von erhaltenen, jahreszeitlich bedingten physikochemischen Signaturen (nicht Schichten) ist nur im obersten Abschnitt des Eiskerns gegeben (Punkt 3).

(6a)   Die Alterseinheit (age unit) von Eiskernchronologien ist i. d. R. das (Kalender-)Jahr. Das ist nicht differenzierend und irreführend. Es wird folgende Alterseinheit vorgeschlagen: Eiskernjahre unter Angabe der zugrundeliegenden Chronologie.

Beispiel 1: Öraefajökull-Tephra (Eruption von 1362 n. Chr.):

588 ± 2 GICC21-Eiskernjahre BP [vor 1950]

Beispiel 2: Z2-Tephra:

55330 ± 1184 GICC05-Eiskernjahre BP

(6b)   Des Weiteren bedarf es grundsätzlich eines Ausweises der (mittel- oder unmittelbar) zugrundeliegenden Datierungsmethode. Es ist schließlich darauf zu achten, dass auch in populärwissenschaftlichen Publikationen diese differenzierenden Angaben (inkl. Punkt 6a) übernommen werden.

 

Anmerkungen

[1]     Die klimatische Interpretation der Daten ist nicht Gegenstand dieses Beitrags; der Verfasser geht auf diesbezügliche Aussagen der Eiskern-Bearbeiter nicht weiter ein.

[2]     Zu den Altersangaben und damit zusammenhängender Begriffe siehe Glossar unter „Jahr“.

[3]     „Ice-core dating is an independent method of absolute dating based on counting of individual annual layers in large ice sheets” (Hammer et al. 1986, 284).

[4]     Science-Titel (17. 10. 1969): „One Thousand Centuries of Climatic Record from Camp Century on the Greenland Ice Sheet.” (Dansgaard et al. 1969).

[5]     Nature-Titel (15. 7. 1993): „Evidence for general instability of past climate from a 250-kyr ice-core record.” (Dansgaard et al. 1993).