Australopithecus – Vormensch oder Großaffe? Alte Hypothesen und neue Befunde zur Hirnstruktur
Zusammenfassung:
Das zentrale Forschungsziel der Paläanthropologie ist die Rekonstruktion der vermuteten stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen. Nach heutiger evolutionstheoretischer Vorstellung haben Mensch und Schimpanse einen gemeinsamen großaffenähnlichen Vorfahren. Eine wichtige Rolle bei der Bewertung stammesgeschichtlicher Hypothesen spielen Kenntnisse über das Gehirn.
Den einzigen direkten Hinweis auf den Entwicklungsgrad des Gehirns fossiler Homininen geben Ausgüsse ihrer Hirnschale (Endocasts). Schädelinnenausgüsse können Auskunft über die Größe und Form einschließlich Asymmetrien des Gehirns geben. Von Endocasts sind unter Umständen auch Schlüsse auf das Muster von Hirnfurchen möglich, denn diese können sich in die Hirnschale eindrücken und reproduzieren sich dann auf den Schädelinnenausgüssen. Hirnfurchen sind für Paläneurologen, also Wissenschaftler, die sich mit Gehirnen fossiler Lebewesen beschäftigen, besonders interessant, weil sie mitunter eine Beziehung zur Zytoarchitektur (Aufbau der Zellen) der Hirnrinde haben.
Damit besteht die berechtigte Hoffnung, vom Hirnfurchenmuster Hinweise auf die Struktur und davon abgeleitet auf die Leistungsfähigkeit des Gehirns einst lebender Homininen zu erhalten. Angesichts der deutlichen kognitiven Unterschiede zwischen Großaffe und Mensch ist es überraschend, dass sich ihr Hirnfurchenmuster kaum unterscheidet. Paläneurologische Untersuchungen zum Hirnfurchenmuster konzentrieren sich auf zwei Gebiete des Gehirns: den unteren Stirnlappenbereich mit den zytoarchitektonischen Arealen nach Brodmann (BA) 44, 45 und 47 und den Hinterhauptlappenbereich mit BA 17 (Abb. 1). Mehr Möglichkeiten durch aussagekräftige Vergleiche zwischen Menschen und Großaffen stehen auf diesem Gebiet nicht zur Verfügung.
Bis vor kurzer Zeit gab es die begründete Hypothese, nach der der Frontallappen von Australopithecus in Teilen menschenähnlich umgebaut war. Diese Annahme basiert auf Merkmalen, in denen sich heutige Großaffen und der Mensch unterscheiden und die bei Australopithecus menschenähnlich ausgeprägt sind. Träfe dieser Befund zu, würde er die Deutung von Australopithecus als frühen Homininen oder „Vormenschen“ unterstützen. Eine neue Studie an lebenden Schimpansen zeigt jedoch eine Variabilität der Hirnfurchenmuster und auch der Hirnform, die erheblich größer ist als bisher bekannt. Vor diesem Hintergrund müssen die bis vor kurzem als menschlich interpretierten Merkmale des Gehirns von Australopithecus neu bewertet werden.
Abstract in English (via DeepL): Australopithecus – Pre-human or Great Ape? Old Hypotheses and New Findings on Brain Structure
The central research goal of paleoanthropology is to reconstruct the presumed phylogenetic development of humans. According to current evolutionary theory, humans and chimpanzees share a common great ape-like ancestor. Knowledge about the brain plays an important role in evaluating phylogenetic hypotheses.
The only direct indication of the degree of development of the brains of fossil hominins is provided by casts of their brain shells (endocasts). Intracranial casts can provide information about the size and shape, including asymmetries, of the brain. Endocasts may also allow conclusions to be drawn about the pattern of brain furrows, as these can be imprinted in the brain case and are then reproduced on the internal skull casts. Brain furrows are of particular interest to paleoneurologists, i.e., scientists who study the brains of fossil organisms, because they are sometimes related to the cytoarchitecture (cell structure) of the cerebral cortex.
This gives rise to the justified hope that the pattern of brain furrows will provide clues to the structure and, by extension, the performance of the brains of hominins that once lived. Given the clear cognitive differences between great apes and humans, it is surprising that their brain furrow patterns hardly differ. Paleoneurological studies of the brain sulcus pattern focus on two areas of the brain: the lower frontal lobe area with the cytoarchitectonic areas according to Brodmann (BA) 44, 45, and 47, and the occipital lobe area with BA 17 (Fig. 1). There are no other possibilities for meaningful comparisons between humans and great apes in this area.
Until recently, there was a well-founded hypothesis that parts of the frontal lobe of Australopithecus had been restructured in a human-like manner. This assumption is based on characteristics in which today’s great apes and humans differ and which are human-like in Australopithecus. If this finding were true, it would support the interpretation of Australopithecus as early hominins or “pre-humans.” However, a new study of living chimpanzees shows a variability in brain sulcus patterns and brain shape that is considerably greater than previously known. Against this background, the characteristics of the Australopithecus brain that until recently were interpreted as human must be reevaluated.
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