Evolutionäre Entwicklungsbiologie
Zusammenfassung:
Hemminger & Beyer (2009) geben in einem Buchbeitrag Einblicke in die neue Forschungsrichtung der Evolutionären Entwicklungsbiologie (kurz: Evo-Devo). Nach Auffassung ihrer Befürworter – auch der beiden Autoren – bietet dieser neue Zweig der Evolutionsbiologie einen hoffnungsvollen Ansatz zum kausalen Verständnis der Evolution, insbesondere zur Entstehung von evolutionären Neuheiten. Die beiden Autoren vermitteln dem Leser durchweg den Eindruck, Evo-Devo liefere bereits für eine große Anzahl offener Fragen solide Erklärungen, obwohl sie – wie auch die von ihnen nur sehr selektiv zu Rate gezogene Originalliteratur – nur vage Vorstellungen und Ideen präsentieren. Die Autoren listen nur notwendige Bedingungen und bloße Beschreibungen möglicher evolutionärer Änderungen der Ontogenese auf, die per se keine Erklärungen von (hypothetischen) Evolutionsprozessen beinhalten. Sie versäumen es, auf die fehlenden empirischen und experimentellen Belege für die behaupteten evolutiven Prozesse hinzuweisen. Ob der Evo-Devo-Ansatz wirklich neues Erklärungspotential besitzt, muss sich erst noch erweisen; bislang beruht der Fortschritt der Forschung jedenfalls im Wesentlichen auf der „Devo“-Seite, also der Entwicklungsbiologie, die die Prozesse des Werdens individueller Organismen beschreibt. Hier wurden überraschende und faszinierende Entdeckungen gemacht wie die Modularität in der Genetik und im Stoffwechsel, die Ähnlichkeiten zahlreicher Regulationsgene in verschiedensten Tierstämmen (Konservierung der Gene) und die Mehrfachnutzung von Genen bzw. Proteinen oder ganzer Module. Ob und ggf. inwiefern diese Entdeckungen einen Schlüssel auch zum Verständnis der stammesgeschichtlichen Evolution (Phylogenese) liefern, ist offen.
Prozesse der Ontogenese (Individualentwicklung) dürfen nicht ohne empirisch belegte Nachweise auf phylogenetische Abläufe abgebildet werden, sondern vermitteln allenfalls Ideen, die getestet werden müssen. Diesen für den Anspruch von Wissenschaftlichkeit entscheidenden Schritt übergehen Hemminger & Beyer in ihrem Beitrag, die von ihnen vorgestellten experimentellen Befunde erklären im Wesentlichen nur Aspekte von „Devo“. Der Beitrag enthält zudem fachliche Fehler, insbesondere werden Schlüsselbegriffe (z. B. Heterochronie) z. T. falsch definiert und angewendet. Die Darstellung des Forschungsstandes zur Entstehung des Fledermausflügels ist gegenüber der Fachliteratur verkürzt und dadurch irreführend.
Die beiden Autoren befassen sich in ihrem Beitrag auch mit einem kritischen Artikel über Evo-Devo von Junker (2007). Dieser Teil ist durchsetzt von unwahren und sinnentstellenden Aussagen und lässt erkennen, dass von den Autoren wichtige Teile der Evo-Devo-Literatur nicht zur Kenntnis genommen wurden. Auffällig sind hier besonders eine fehlerhafte und geschönte Widergabe der Ausgangssituation der Evolutionsbiologie, sachliche Entstellungen von Argumenten sowie eine inkorrekte Einverleibung von Evo-Devo in das überkommene Gebäude der Synthetischen Evolutionstheorie. Ein Großteil der kritischen Analyse des Evo-Devo-Ansatzes durch Junker (2007) wird von Hemminger & Beyer dagegen nicht einmal erwähnt. Der Beitrag der beiden Autoren erschien im Sammelband „Evolution im Fadenkreuz des Kreationismus“. Dessen Anspruch, Argumentationen von „Evolutionsgegnern“ kritisch zu analysieren, wurde im Beitrag von Hemminger & Beyer deutlich verfehlt.
Abstract in English (via DeepL): Evolutionary developmental biology
In a book contribution, Hemminger & Beyer (2009) provide insights into the new field of research known as evolutionary developmental biology (Evo-Devo for short). According to its proponents—including the two authors—this new branch of evolutionary biology offers a promising approach to understanding the causes of evolution, especially the emergence of evolutionary novelties. The two authors consistently give the reader the impression that Evo-Devo already provides solid explanations for a large number of open questions, even though they – like the original literature they consult only very selectively – present only vague notions and ideas. The authors merely list necessary conditions and descriptions of possible evolutionary changes in ontogenesis, which do not in themselves provide explanations of (hypothetical) evolutionary processes. They fail to point out the lack of empirical and experimental evidence for the claimed evolutionary processes. Whether the Evo-Devo approach really has new explanatory potential remains to be seen; so far, progress in research has been based mainly on the “Devo” side, i.e., developmental biology, which describes the processes of becoming individual organisms. Surprising and fascinating discoveries have been made here, such as modularity in genetics and metabolism, the similarities between numerous regulatory genes in a wide variety of animal strains (gene conservation), and the multiple use of genes, proteins, or entire modules. Whether and, if so, to what extent these discoveries also provide a key to understanding phylogenetic evolution (phylogenesis) remains open.
Processes of ontogenesis (individual development) must not be mapped onto phylogenetic processes without empirically proven evidence, but at best convey ideas that need to be tested. Hemminger & Beyer omit this step, which is crucial for scientific rigour, in their article; the experimental findings they present essentially only explain aspects of “Devo”. The article also contains technical errors; in particular, key terms (e.g., heterochrony) are sometimes incorrectly defined and applied. The presentation of the state of research on the origin of the bat wing is abbreviated compared to the specialist literature and is therefore misleading.
In their article, the two authors also deal with a critical article on Evo-Devo by Junker (2007). This part is riddled with untrue and misleading statements and reveals that the authors have not taken note of important parts of the Evo-Devo literature. Particularly striking here are an incorrect and embellished account of the initial situation in evolutionary biology, factual distortions of arguments, and an incorrect incorporation of Evo-Devo into the traditional framework of synthetic evolutionary theory. In contrast, Hemminger & Beyer do not even mention much of Junker’s (2007) critical analysis of the Evo-Devo approach. The article by the two authors appeared in the anthology “Evolution im Fadenkreuz des Kreationismus” (Evolution in the Crosshairs of Creationism). Its claim to critically analyze the arguments of “opponents of evolution” was clearly missed in the article by Hemminger & Beyer.
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