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ARTE: „Darwin Express: Evolution in Rekordzeit“

Superschnelle Anpassung – und was sie nicht ist: Ein kritischer Blick auf moderne Evolutionsdarstellung durch ARTE


Nachfolgend eine Rezension von Peter Borger:

 

In einem aktuellen ARTE-Video wird ein faszinierendes Phänomen aufgegriffen: Tiere und Pflanzen können sich rasch an ihre Umwelt anpassen – viel schneller, als lange gedacht wurde (ARTE 2025). In wenigen Jahren, manchmal sogar innerhalb einer Generation, sind Veränderungen sichtbar. An sich ist das nichts Neues. Neu ist jedoch, dass solche Phänomene heute häufig automatisch als „Evolution“ gedeutet werden – im Sinne Darwins. Doch wer genauer hinsieht, erkennt: Diese extrem schnellen Anpassungen entsprechen nicht dem klassischen Evolutionsmodell Darwins, das von einem langwierigen, schrittweisen Prozess ausgeht, bei dem neue Merkmale über viele Generationen hinweg langsam entstehen. Und das Video selbst enthält gleich mehrere fragwürdige Darstellungen, die ein unrealistisches Bild von „Evolution“ zeichnen.

Das Video beginnt mit der Aga-Kröte (Rhinella marina; s. Abb. 1), die vor etwa 70 Jahren zur Schädlingsbekämpfung nach Australien eingeführt wurde. Seitdem hat sie sich rasant ausgebreitet. Auffällig ist: Die Tiere sind schneller, legen größere Distanzen zurück und ermüden langsamer als ihre südamerikanischen Vorfahren. Diese Veränderungen traten innerhalb von nur 18 Generationen auf – das ist superschnell.

Abb. 1  Aga-Kröte (Rhinella marina). (Froggydarb, CC BY-SA 3.0)

Im weiteren Verlauf werden weitere Beispiele gezeigt: In Kanada etwa schrumpfen die Hörner der Mufflons, einer Wildschafart. Statt wie früher große, imposante Kringelhörner zu tragen, entwickeln viele Tiere heute deutlich kleinere Hörner. Eine mögliche Erklärung: Tiere mit kleineren Hörnern werden seltener gejagt – sie überleben eher und geben daher eher ihre Gene weiter.

In Alaska zeigt sich ein ähnliches Bild: Die Lachse, die früher größer waren, sind mittlerweile im Durchschnitt kleiner. Die größeren Exemplare wurden verstärkt gefischt, sodass kleinere Varianten überwiegen.

In Mosambik wurde eines der dramatischsten Beispiele beobachtet: Nach Jahrzehnten der Wilderei immer werden mehr Elefanten ohne Stoßzähne geboren. Die Stoßzähne machten sie zur Zielscheibe; Tiere ohne dieses Merkmal haben einen Überlebensvorteil.

Auf Puerto Rico schließlich wurden Anolis-Echsen beobachtet, die plötzlich kräftigere Vorderbeine und größere Krallen entwickelten – innerhalb kurzer Zeit. Der Grund war eine veränderte Lebensumgebung, in der das Klettern auf glatten Oberflächen eine verbesserte Fähigkeit zum Klettern erforderte. Die Echsen reagierten darauf, und ihre Körperstruktur passte sich an – in einer Geschwindigkeit, die Darwin wohl überrascht hätte.

Mythos Darwins und gravierende Fehler

So beeindruckend diese Beispiele sind, so wichtig ist es, zu verstehen: Diese Anpassungen sind keine Evolution im Sinne Darwins, also keine Erklärung für das Entstehen völlig neuer Baupläne, Organe oder biologischer Information. Die Veränderungen beruhen auf bereits vorhandenen genetischen Varianten, deren Häufigkeit sich verschiebt – durch Umweltdruck, Selektion oder Regulation der Genaktivität. Kein einziges dieser Beispiele zeigt, wie völlig neue genetische Information entsteht. Es handelt sich vielmehr um ein Aussortieren – nicht um ein Erfinden. Und hier beginnt die Verwirrung. Im ARTE-Video wird behauptet, dass diese Anpassungen Belege für Evolution seien – unter Berufung auf Darwin. Doch schon die Darstellung Darwins selbst ist historisch und wissenschaftlich fragwürdig.

Zunächst wird behauptet, Darwin sei von den sogenannten „Darwin-Finken“ inspiriert worden – jenen Vögeln aus der Familie der Tangaren von den Galápagos-Inseln mit unterschiedlich geformten Schnäbeln (Min. 11:00). Das stimmt jedoch nicht mit dem wirklichen Verlauf der Geschichte überein. Tatsächlich hatte Darwin weder systematisch dokumentiert, von welchen Inseln die gesammelten Vögel stammten; auch die Taxonomie (Einteilung) der Arten von Darwinfinken geht nicht primär auf Darwin zurück. Erst sein Freund Asa Gray und andere halfen ihm später, die korrekte Einordnung vorzunehmen. Es ist also ein Mythos, dass Darwin von den Finken her „die Evolution erkannte“.

Noch gravierender ist eine weitere Behauptung im Video: Vor Darwin hätten „alle“ Menschen geglaubt, dass Arten starr erschaffen und unveränderlich seien (im Video: Min. 12:35:). Auch das entspricht nicht den historischen Tatsachen. Schon Carl von Linné, der Begründer der modernen Systematik, hatte im 18. Jahrhundert angedeutet, dass Gott Gattungen oder Familien schuf, und die Arten sich innerhalb dieser Gruppen durch natürliche Prozesse entwickelten. Der berühmte französische Biologe Jean Baptiste de Lamarck formulierte sogar eine frühe Theorie der Veränderung von Arten, in der erworbene Eigenschaften vererbt werden – etwas, das Darwin später aufgriff. Darwin wandte sich nämlich in seinen späten Jahren den Lamarck‘schen Ideen verstärkt zu, als er versuchte, Vererbung durch sogenannte „Gemmulae“ zu erklären.

Auch die Definition von „Evolution“ im Video ist fragwürdig. Es heißt dort (Min. 14:13): „… ist eine variable Eigenschaft erfolgreicher als eine andere, wird sie in der nächsten Generation verstärkt auftauchen – das ist Evolution.“ Doch dabei handelt es sich nicht um die Entwicklung von Neuem, sondern um das Vermehren von Bewährtem, also um Selektion – heute meist im Rahmen der Populationsgenetik beschrieben. Wenn die Merkmale bereits in der Population vorhanden sind, was entwickelt sich dann? Es wird lediglich aussortiert – Selektion wirkt nur auf vorhandene Merkmale. Neue biologische Baupläne entstehen so nicht.

Grob irreführend ist im Video in diesem Zusammenhang der Sprung von einem Beispiel zur Farbveränderung zur Entstehung des aufrechten Gangs, der durch ein Transposon (springendes Gen) begünstigt worden sein soll. Das ist ungefähr so, als würde man sagen, die Entstehung des Fernsehers wäre durch Implementierung des An/Aus-Knopfes begünstigt worden.

Dazu passt auch eine verwirrende Aussage im Video: Dort heißt es (Min. 30:08), dass „Transkriptionsfehler bei der Fortpflanzung“ genetische Vielfalt erzeugten. Das ist schlicht falsch. Transkriptionsfehler – also Fehler beim Umschreiben von DNA in RNA – sind in der Regel nicht vererbbar und betreffen nur das aktuelle Individuum. Was zur erblichen Vielfalt führt, sind Mutationen bei der DNA-Replikation – also Kopierfehler beim Verdoppeln des Genoms vor der Zellteilung, vor allem in Keimzellen.

Evolution ohne Mutation

Im letzten Teil des Videos wird es noch interessanter: Dort ist die Rede von „Evolution ohne Mutation“. Hier kommen wir zur sogenannten „transgenerationalen Plastizität“ – einem Feld, das tatsächlich neue Einsichten bietet. Ein Beispiel, das im Video ausführlich behandelt wird, ist die Spitze Blasenschnecke, eine Wasserschnecke, die mit bemerkenswerten Anpassungsreaktionen auf erhöhte Gefahr, von Fressfeinden erbeutet zu werden, reagiert. Wird ein Artgenosse angegriffen, gibt dieser chemische Signale – sogenannte Kairomone – ins Wasser ab. Die anderen Schnecken nehmen diese wahr, ändern daraufhin ihr Verhalten (sie verlassen das Wasser) und bilden sogar dickere Schalen aus. Besonders erstaunlich: Diese Reaktion kann sich auf die nächste Generation übertragen – ganz ohne Veränderung des Erbguts. Heute weiß man, dass es sich dabei um epigenetische Prozesse handelt – also um eine Umprogrammierung der Genregulation durch äußere Einflüsse. Solche Vererbung „erworbener Eigenschaften“ wurde lange Zeit übersehen oder missverstanden, wenn sie mit echter genetischer Evolution verwechselt wurde.

Ein letztes Beispiel, das im Video behandelt wird, ist das Acker-Stiefmütterchen (Viola arvensis; Abb. 2). Es wurde beobachtet, dass in bestimmten Regionen, in denen es kaum noch Insekten gibt, die Pflanzen zur Selbstbefruchtung übergingen. Die Fähigkeit zur Insektenbestäubung ging in wenigen Generationen verloren – ein Anpassungsschritt, der allerdings langfristig in eine Sackgasse führt. Denn Selbstbefruchtung reduziert die genetische Vielfalt innerhalb der Art, macht die Pflanzen anfälliger für Krankheiten und Umweltschwankungen – und damit weniger überlebensfähig. Es ist ein gutes Beispiel dafür, was Selektion langfristig bewirken kann: Verlust von Vielfalt, nicht Zuwachs.

Abb. 2  Acker-Stiefmütterchen (Viola arvensis). (AnRo0002, CC0)

Anpassung allein ist keine Evolution im Sinne Darwins

Was ist das Fazit aus all dem? Bei den im Video präsentierten Beispielen handelt es sich um  Anpassungen, Regulationsänderungen, Selektion auf vorhandene genetische Varianten – aber keine Evolution im Sinne der „Höherentwicklung“. Selbst einer der im Video zitierten Evolutionsbiologen, Andrew Henry (McGill University, Montreal), kommentiert (Min. 21:04): „Bis jetzt konzentrierte sich Evolution auf große Veränderungen, heute nennen wir das Makroevolution. Diese kurzfristigen Veränderungen nennen wir Mikroevolution.“ Der wichtige Punkt dabei ist: Mikroevolution ist erklärbar – oft mechanistisch gut verstanden. Sie ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass diese Vorgänge nicht zur Entstehung neuer Organe oder Grundbaupläne führen. Sie erzeugen keine neuen Gene, keine neuen Zelltypen, keine völlig neuen Funktionen. Evolutionsbiologen täten gut daran, ihre Begriffe sauberer zu definieren, denn nicht alles, was zu Veränderungen führt, ist auch „Evolution“ im Darwin‘schen Sinn. Epigenetische Anpassungen oder Mechanismen wie Transposons zählen sicher nicht dazu – sie verändern nicht die genetische Information selbst, sondern lediglich deren Nutzung oder Position im Genom. Ein klassisches Schulbuchbeispiel ist der Birkenspanner, bei dem ein Transposon für die dunkle Färbung verantwortlich ist – es schaltet die normale gefleckte Pigmentierung aus und führt so zur dunklen Variante (Min. 25:00). Solche Prozesse erklären die bemerkenswerte Flexibilität innerhalb bereits bestehender biologischer Systeme, liefern jedoch keine Erklärung für die Entstehung neuer Baupläne oder komplexer Funktionen. Und so zeigt das Video am Ende – vielleicht unbeabsichtigt – genau das Gegenteil dessen, was es ursprünglich wollte: Nicht die Stärke der Evolutionstheorie, sondern ihre Grenzen. Statt Evolution beobachten wir Selektion, Spezialisierung – und oft Devolution: Rückbau statt Aufbau.

Die Im Video gezeigte „Express-Evolution“ beruht auf dem Abrufen vorhandener Programme. Das ist keine gute Nachricht für Evolutionsbiologen, denn woher kommen diese Programme? Interessant ist auch die Formulierung: Transposons als „Zauberstäbe der Evolution“ (Min. 29:15). Es ist schon interessant, dass in einem naturalistischen Szenario Zauberei als Bild verwendet wird.

 

Literatur

ARTEde (2025) Darwin Express: Evolution in Rekordzeit, vom 04.10.2025, https://www.youtube.com/watch?v=Kwzm1Iv2YBk.