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W.-E. Lönning: „Unser Haushund: Eine Spitzmaus im Wolfspelz?“

Oder beweisen die Hunderassen, dass der Mensch vom Bakterium abstammt?
Studium Integrale Journal 22. Jahrgang / Heft 1 - Mai 2015 Seite 63 - 64

Nachfolgend eine Rezension von Felix Hess:

Gosses BildIn seinem neuesten Buch „Unser Haushund – Eine Spitzmaus im Wolfspelz?“ geht der Genetiker W. E. Lönnig der Frage nach, ob die enorme Variabilität, welche bei den Hunden in wenigen Jahrtausenden entstanden ist, ein Indiz für Makroevolution ist. Die Variation, welche bei Richard Dawkins als „rosiger Weg zur Makroevolution“ (Dawkins 2012, S. 56) beschrieben wird, wird von Lönnig als „rostiger Weg zur Makroevolution“ angesehen, indem gezeigt wird, dass die immense Variabilität unter anderem das Resultat von Genmutationen und Genduplikationen ist, welche oft negative Folgen nach sich ziehen.

Die Grundlage des Buches bilden viele von Dawkins‘ Behauptungen zum Beweis der Makroevolution durch die Vielfalt der Hunde. Eine Vielzahl solcher Zitate wird am Anfang des Buches wiedergegeben. Anschließend zeigt Lönnig, in welchen Punkten sich Dawkins und seine Kollegen seiner Meinung nach irren. Repräsentativ sollen an dieser Stelle einige Beispiele genannt werden: Riesenwuchs ist auf das Nicht-Abschalten eines Regulatorgens zurückzuführen. Zwergwuchs wird bei mindestens 19 gezüchteten Hunderassen durch ein 5000 Basenpaare großes Retrogen (Gene, die auf der Grundlage einer RNA in DNA zurück übersetzt werden) ausgelöst. Die Haarlosigkeit bei Nackthunden ist Folge einer Defektmutante, welche mit dem Verlust von Zähnen einhergeht. Weißes Fell ist die Folge des Verlustes oder der Verminderung der Fähigkeit, Melanin (Farbpigmente) zu produzieren. Die blauen Augen mancher Hunde (z.B. des Huskys) sind auf eine Reduktion in der Melaninproduktion oder auf das Fehlen von Pigmentation in der Iris zurückzuführen. Die knöcherne Gehörkapsel sowie das Trommelfeld sind beim Hund kleiner als beim Wolf. Hunde können hohe Frequenzen nicht so gut wahrnehmen. Viele weitere Beispiele von Funktionsverlusten bei spezifischen Hundearten werden angeführt.

Weite Teile des Buches sind sehr ausführlich geschrieben: Im Kapitel 12 zum Beispiel befasst sich der Autor Punkt für Punkt kritisch mit Dawkins‘ Darstellung zur Parallelevolution zum Hund bei der Domestikation des Fuchses, indem er Dawkins‘ Aussagen relativiert oder belegt, dass Funktionsverluste stattgefunden haben. Mit der gleichen Genauigkeit werden 16 Aspekte der Neotenie (Stehenbleiben auf dem Jugendstadium) bei Hunden untersucht und es wird konträr zur gängigen, populären Meinung gezeigt, dass die Interpretation von Merkmalen als Folge von Neotenie kaum eine empirische Basis hat.

Ein längeres Kapitel konzentriert sich auf die CNV’s (Kopienzahlvariation) sowie die SNPs (Einzelnukleotid-Polymorphismus). CNV geben an, wie viele Varianten eines homologen DNS-Abschnittes in einem Genom vorkommen, und der SNP gibt die Abweichung eines einzelnen Basenpaares in einem DNS-Strang vom ursprünglichen Strang an. Der Autor diskutiert die Auswirkungen von Genduplikationen (Verdopplung von Genen) sowie Deletionen (Verlust von genetischem Material) im Allgemeinen und stellt fest, dass diese meistens neutral oder schwach nachteilig sind. Dafür werden zahlreiche Beispiele angeführt und unter anderem Fälle diskutiert, welche in der gängigen Literatur als selektionspositive CNV dargestellt werden. Die Brücke zu den Hunden wird dadurch geschlagen, dass der Autor einen Artikel im Detail analysiert, der auf die Unterschiede der SNP und CNV von Hund und Wolf eingeht. Eine detaillierte Untersuchung eines zweiten Artikels, dessen Autoren behaupten, dass bei Hunden eine Verbesserung der Stärkeverdauung stattgefunden hat, folgt im Anschluss. Lönnig kommt unter anderem zum Schluss, dass dieses Beispiel nicht als „generelle(r) Makroevolutionsbeweis hinzu addier(t) werden kann(…).“ Er nimmt Bezug auf den Ansatz des Intelligent Designs mit der Hypothese, dass Organismen zu Beginn verschiedene CNV zur Bewältigung verschiedener Umweltsituationen besaßen.

In weiteren kürzeren Kapiteln behandelt der Autor negative Auswirkungen von Hyperplasien (Größenzunahme eines Organs durch Zellvergrößerung) und Hypertrophien (Größenzunahme eines Organs durch vermehrte Zellteilung) beim Haushund, außerdem befasst er sich mit Konvergenzerscheinungen von Merkmalen beim Beutelwolf und geht auf das Gesetz der Rekurrenten Variation ein (= Mutationsspektrum erweitert sich nach wiederholter Mutationsauslösung nicht mehr).

Oft zieht der Autor weitere Ergebnisse, z.B. aus der Genetik, hinzu. Lönnig gibt z.B. Einblick in seine eigene Arbeit als Pflanzengenetiker, wenn er anhand von Physalis pubescenes (Blasenkirschen) aufzeigt, welch beeindruckende Vielfalt von Formen in kurzer Zeit durch Struktur- und Funktionsabbau erreicht werden kann. Einige Kapitel wie das zur Feinabstimmung von Genwirkketten gehen über das Thema des Buches hinaus und passen nach meiner Einschätzung nicht in diese Arbeit.

Im hinteren Teil des Buches wird auf die Stammesgeschichte der Hundeartigen eingegangen. Zuerst geht Lönnig auf postulierte Vorfahren der Raubtiere (Carnivora) ein, zu welchen die Katzen- sowie Hundeartigen gehören:

  1. Den Miaciden, welche gewöhnlich als Vorfahren der Katzen- und Hundeartigen (Carnivora) angesehen werden, wird neuerdings dieser Status abgesprochen.
  2. Die Credonta, auch Urraubtiere genannt, können nicht als die direkten Vorfahren der Katzen- und Hundeartigen (Carnivora) betrachtet werden und werden in der Abstammungslinie weiter in die Vergangenheit verschoben. Ihre Ähnlichkeit mit den Carnivora wird durch konvergente (unabhängige) Evolution erklärt.
  3. Die Säugergruppe der Cimolesta, welche als Vorfahren der modernen Raubtiere vorgeschlagen wird, wird neuerdings nicht einmal mehr zu den Plazentatieren gerechnet (Tiere mit einer Plazenta – Mutterkuchen), und scheidet deshalb als Vorfahre aus.

Im Weiteren zeigt Lönnig auf, dass „nach evolutionstheoretischen Prämissen (…) einiges auf dem Kopf“ steht, da z. B. die früher auftretenden Viverravidae zwei als fortschrittlich geltende Merkmale besaßen, nämlich ein paar echte Reißzähne und eine insgesamt reduzierte Bezahnung, wobei die Miaciden in letzterem Merkmal noch „primitiv“ waren. Trotzdem werden die Miaciden traditionell als die Vorfahren der Carnivora angesehen. Lönnig stellt unter anderem auch als Widerspruch fest, dass trotz des exzellenten Fossilberichts der Carnivora deren genaue Entstehung schlecht verstanden ist.

Nach dem postulierten Übergang zu den ersten Raubtieren wird evolutionstheoretisch folgende Abstammungslinie zu den Hunden vorgeschlagen: 1. Hesperocyoninae, 2. Borophaginae, 3. Caninae. Die Caninae sind die einzige überlebende Unterfamilie der Canidae – alle Hunde, Wölfe, Füchse, Schakale und Kojoten werden zu ihr gezählt.

Eine Untersuchung der postulierten Übergangsformen folgt: Innerhalb der Unterfamilie der Hesperocyoninae wird evolutionstheoretisch angenommen, dass Prohesperocyon die Übergangsform zu Hesperocyon ist. Prohesperocyontaucht jedoch 4 Millionen Jahre später als Hesperocyon im Fossilbericht auf („Kinder sind Vorfahren der Eltern“). Eine detaillierte Analyse der Unterschiede zwischen Prohesperocyon und Hesperocyon unter anderem in der Bezahnung, dem länglichen Schädel und der Bulla (knöcherne Umhüllung des Mittelohrs) lässt Lönnig daran zweifeln, dass Prohesperocyon als gute Übergangsform zwischen den Miacidae und Hesperocyon gelten kann, unter anderem aufgrund von Autapomorphien (das sind „fortschrittliche“ Merkmale, die nur eine betreffende Art bzw. Gruppe besitzt).

Es wird angenommen, dass Archaeocyon Vorfahre der Borophaginae (Unterfamilie der Hunde) ist. Die von Archaeocyon abgeleitete Form Otarocyon tritt jedoch 2 Millionen Jahre vor Archaeocyon auf. Oxetocyon, eine weitere „fortschrittliche“ Borophaginae-Gattung, taucht gleichzeitig mit Archaeocyon im Fossilbericht auf.

Der Autor stellt außerdem fest, dass die älteste Gattung der Caninae älter als alle Gattungen der Borophaginae ist, mit der Ausnahme einer hochspezialisierten Gattung (der Borophaginae). Lönnig schließt, dass eine kontinuierliche Evolution zu den Hunden „mehr eine Deduktion aus dem vorausgesetzten Gradualismus [kontinuierliche, gleichförmig verlaufende Evolution; der Verf.] als eine Tatsachenbeschreibung aufgrund von Fossilfunden“ ist. Ganz wie Junker & Scherer (2013) plädiert Lönnig dafür, die Daten im Sinne von polyvalenten Stammformen zu deuten – Stammformen, bei welchen die Charakteristika bereits vorhanden oder mindestens angelegt waren und von welchen weitere Gattungen abzuleiten sind. Als Ausgangspunkt der Familie Canidae (mit ihren 3 Unterfamilien Hesperocyoninae, Borophaginae und Caninae) schlägt der Autor Hesperocyon vor, welche bisher die älteste Form der Canidae ist. Anhand von Zahnmodellen zeigt er darüber hinaus die Plausibilität des Szenarios der polyvalenten Stammformen auf.

Zuletzt geht Lönnig auf die Eingangsfrage ein: Unser Haushund: Eine Spitzmaus im Wolfspelz? Evolutionstheoretisch wird angenommen, dass die plazentalen Säugetiere von Tieren in der Größe einer Spitzmaus abstammen. Der Autor bespricht die postulierten Übergangsformen zu den plazentalen Säugetieren sowie deren „explosives“ Auftreten im Fossilbericht (vgl. Ullrich 2015).

Das Buch bietet eine lohnenswerte Auseinandersetzung mit der Thematik der Makroevolution in Bezug auf die Haushunde sowie deren Geschichte. Die Anzahl Autoren, welche Lönnig zitiert, und 831 Fußnoten lassen erahnen, welch immense Arbeit in das Erstellen des Manuskripts gesteckt wurde. Unzählige Originalzitate erschweren es jedoch dem Leser, den Überblick über die Thematik zu behalten. Hinzu kommt, dass der Autor manchmal zu Nebenthemen abschweift, was dazu beiträgt, dass der rote Faden schnell verloren gehen kann. Eine Straffung der Thematik sowie eine teilweise bessere Gliederung des Textes durch Untertitel wären wünschenswert.1 Das Buch ließe sich außerdem noch grafisch aufarbeiten, was sicherlich zu seinem Verkaufserfolg beitragen würde.

Trotz dieser Kritikpunkte ist das Buch eine gelungene, detaillierte Auseinandersetzung mit der Thematik. Die Publikation ist mit zahlreichen Farbbildern ausgestattet. Für Laien wird das Lesen des Manuskripts durch viele Erklärungen von Fachbegriffen erleichtert. Ein Autoren- sowie ein Sachregister erleichtern das Finden von einzelnen Themen oder Zitaten.

Anmerkung und Literatur

1 Das Kapitel zu den CNV und SNP z.B. besteht aus einem 65 Seiten langen Text, welcher keine Unterkapitel hat. Die Gliederung in Unterkapitel würde es dem Leser erleichtern, sich im Text zurechtzufinden.

Junker R & Scherer S (Hg, 2013)
Evolution – ein kritisches Lehrbuch. Gießen, 7. Auflage.
Dawkins R (2012).
Die Schöpfungslüge – Warum Darwin recht hat. Berlin.
Ullrich H (2015)
Wann entstanden die modernen Säugetiere? Einsichten aus Fossilien, Molekülen und Datierungen. Stud. Integr. J. 22, 23-30.