Skip to main content

David Schulz: „Die Natur der Geschichte“

Die Entdeckung der geologischen Tiefenzeit und die Geschichtskonzeptionen zwischen Aufklärung und Moderne
Berlin/Boston: De Gruyter, 2020. 368 S., € 62,95


Nachfolgend eine Rezension von Michael Kotulla:

Tiefenzeit, deep time, ist eine moderne Metapher1 für „geologische Zeit“ und für [mutmaßlich] unvorstellbar lange vergangene Zeiträume auf der Erde: Jahrmillionen oder Jahrmilliarden.

In Die Natur der Geschichte macht David Schulz geltend, dass sich die „Entdeckung der geologischen Tiefenzeit“ zwischen 1750 und 1800 vollzog, zur Zeit der Spätaufklärung. Seine Hauptthese2 ist, dass in dieser Periode geologische Zeit- und Entwicklungskonzepte maßgeblichen Einfluss auf menschliche Geschichtsentwürfe hatten. Geologische Modelle, Konzepte, Begriffe, Methoden und Konventionen seien von der Geschichtswissenschaft übernommen worden. Damit hätten die Erdwissenschaften entscheidend zur Entstehung des modernen historischen Denkens beigetragen. Mit einer „Verzeitlichung der Natur“ sei eine „Naturalisierung der Geschichte“ einhergegangen.

Ein Teilergebnis der Forschungsarbeit von Schulz ist, dass durch die geologische Tiefenzeit die biblische Schöpfung und die biblische Chronologie grundlegend in Frage gestellt wurden und schließlich ihre Verbindlichkeit einbüßten. Dies wird als Delegitimierung bezeichnet; sie erfasst im Weiteren die gesamte, bis dahin weitverbreitete und quasi-gültige „religiöse Ordnung der Geschichte“, die historica sacra. Mit dem Verlust des Wahrheitsanspruchs, so die Diskussion, habe auch der göttliche Heilsplan seine Verbindlichkeit verloren. Die biblischen Zeitschranken seien insbesondere von den Theologen selbst geöffnet worden (S. 85); geologisches Wissen sei zur theologischen Lehrmeinung avanciert (S. 81).

 

Übersicht über die Dissertationsschrift

Der Schwerpunkt der Dissertationsschrift liegt insbesondere auf der Geschichtswissenschaft. Die Fragestellung, die das „Spannungsverhältnis von ‚Geschichte‘ und ‚Natur‘“ betrachtet, ist interdisziplinär. Die Schrift ist übersichtlich gegliedert. In der Einführung (Teil I) wird als Folge der „Entdeckung der geologischen Tiefenzeit“ eine „Marginalisierung des Menschen“ – in Verbindung mit einer Marginalisierung der Menschheitsgeschichte – herausgestellt. Der Hauptteil (II), der Analyseteil, ist mit Die Naturalisierung der Geschichte in der Spätaufklärung überschrieben und besteht aus fünf Kapiteln. Der Autor arbeitet sukzessive „die Bedeutung der Geologie für die Geschichte“ heraus, indem er u. a. die Aufnahme des „erdhistorischen Revolutionsbegriffs“ aufzeigt (1), darlegt, dass die „geologische Tiefenzeit“ entscheidend zur Delegitimierung (s. o.) des biblischen Zeit- und Ordnungssystems beitrug (2) und damit einhergehend als ein wesentliches Element die „Entstehung der Geschichtsphilosophie“ mitprägte (3). Schließlich wird „die Bedeutung der Erdgeschichte bei der Entstehung der Weltgeschichtsschreibung“ behandelt (4). Das letzte Kapitel thematisiert die Entwicklungen im 19. Jahrhundert im Kontext des Historismus (5). Die Überschrift der Schlussbetrachtung (III) weist auf die bedeutende Rolle der Geologie hin: Sind Steine die besseren Historiker? Die Geologie als Quelle moderner Zeitkonzepte.

Die Analyse in Kapitel 3 und 4 des Hauptteils erfolgt in der Hauptsache durch Einzelinterpretationen von Geschichtsentwürfen: Bei den ausgewählten Geschichtsphilosophen handelt es sich um Voltaire, Herder, von Irwing, Meiners und Vierthaler; bei den ‚Weltgeschichtsschreibern‘ um Leibniz, Schlözer, von Mumelter, Beck, von Müller und Schlosser. In Kapitel 3 werden auch die Zeit- und Entwicklungskonzepte von drei Erdwissenschaftlern analysiert, die Einfluss im deutschen Sprachraum gehabt hätten: von Justi, Füchsel und Buffon. Bemerkenswert ist, dass methodisch – untersuchungsleitend – zu einzelnen Kapiteln oder Themenbereichen einzelne Hypothesen formuliert werden.

 

Kommentar

Meine Kommentare beziehen auf einzelne Aspekte, die in der Hauptsache das Geologische betreffen. Meines Erachtens – als Leser, nicht als Kenner der Geschichtswissenschaft, – kann David Schulz seine Hauptthese, die sich im Wesentlichen auf den deutschsprachigen Raum beschränkt, gut begründen. Unklar bleibt allerdings, welche Reichweite, Durchdringung und Akzeptanz „geologische Zeit- und Entwicklungskonzepte“ in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts in der akademischen Welt und breiten Öffentlichkeit besaßen. Handelt es sich beispielsweise um Ideen und Entwürfe, die von einigen wenigen oder einer Mehrheit von Geologen bzw. Naturforschern verbreitet bzw. unterstützt wurden? Buckland (1836, 13) zufolge gilt erst für die 1830er-Jahre, dass „alle Beobachter sich jetzt einig sind, dass sehr lange Zeiträume verstrichen sind.“ Das mag sich nicht nur auf Großbritannien beziehen. So ist denkbar, dass eher Ersteres zutrifft. Demzufolge hätten die Geschichtsschreiber der Spätaufklärung früh einzelne langzeitliche Vorstellungen – als Gegenentwürfe zur biblischen Schöpfung und Chronologie – rezipiert und verbreitet.

Ebenfalls unklar ist, in welchem Umfang sich „geologische Zeit- und Entwicklungskonzepte“ in dieser Periode „durchsetzten“. Auf S. 71 heißt es: „(…) die hier diskutierten Beispiele belegen, dass sich auch unter Theologen zwischen 1750 und 1800 die geologischen Darstellungen zur Urzeit der Erde durchsetzten (…)“. Unter den Beispielen sind zwei Theologen, Less (1779) und Geddes (1792), ein Schotte. Dazu können noch Jerusalem (1768; und weitere), Rosenmüller (1776, 1782), Sack (1785) und Pott (1799) gerechnet werden, die weiter unten (S. 75-83) besprochen werden. Dort heißt es dann (S. 81): „Sack belegt mit seiner Schrift Geologie oder Betrachtung der Erde, dass sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Ansicht von dem hohen Alter der Erde auch unter Theologen durchgesetzt hatte:“ Das „Durchsetzen“ impliziert eine große, mehrheitliche Verbreitung bzw. Durchdringung unter Theologen noch vor Beginn des 19. Jahrhunderts. Dies könnte m. E. frühestens zur Mitte des 19. Jahrhunderts eingetreten sein, nachdem Harmonisierungsversuche von Genesis und Geologie populär geworden waren. Die von Schulz aufgeführten bzw. diskutierten Theologen sind sicherlich als exemplarisch aufzufassen, also mehr als Einzelfälle, dennoch kann der Kreis der Rezipienten insgesamt noch nicht so groß gewesen sein. So bespricht Rosenmüller (1782) in seiner Vorrede die aus seiner Sicht wesentlichen neuen Publikationen zur Schöpfungsgeschichte der vergangenen sechs Jahre, nämlich (nur) Jerusalem und Less (s. o.). Des Weiteren weisen die Betrachtungen der diskutierten Theologen zur Schöpfungsgeschichte und Kosmogonie eine außerordentliche inhaltliche Bandbreite auf; sie sind insbesondere von Spekulationen erfüllt und einer Art Pionierstadium zuzurechnen. Dazu zählen auch erste Harmonisierungsversuche (Kosmogonie/Geologie – Genesis). Less (1779, 188) zum Beispiel spekuliert – ebenso wie Kant (1755) – über bewohnte Planeten des Sonnensystems; im Tatsachen-Modus: „Alle diese Weltkörper [alle von unserer Sonne erleuchteten, MK] sind eben sowohl mit Lebenden, Empfindenden und Vernünftigen Geschöpfen besezt, als unsere Erde.“

Handelt es sich um eine „Entdeckung der Tiefenzeit“ oder um eine „Erfindung der Tiefenzeit“?

Für Schulz scheint Tiefenzeit „wahr“. Der Geschichtsschreibung der Spätaufklärung komme das Verdienst zu, geologisches Wissen popularisiert zu haben (S. 301). Handelt es sich hier aber um Wissen oder um (Re-)konstruktionen, Interpretationen oder Spekulationen? Begriffe wie „Evidenz“ und „Empirie“ scheinen punktuell gezielt gesetzt, beispielsweise „empirisch validiertes Wissen“ (S. 58) oder „die empirischen Zeitmodelle der Geologie“ (S. 94). Zeit werde durch Materie dokumentiert (S. 284), durch die Anordnung von Steinen und Schichten (S. 287); dadurch werde die Erdgeschichte „‘im Prinzip empirisch zugänglich‘“ (S. 284, Rahden 2010 zitierend). Wie verhält es sich mit der Zeitdauer? Marie-Pierre Aubry (2009, 93), eine Protagonistin des Tiefenzeit-Konzepts, schreibt: „An sich gibt uns eine Diskordanz oder ein anderes Merkmal der Gesteine a priori keinen intuitiven Sinn für die Zeitdauer.“ Folglich muss gefragt werden: Sind die geologischen Langzeit-Vorstellungen der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts falsifiziert worden? Wenn nein, waren sie überhaupt falsifizierbar? Wie ist die „geologische Tiefenzeit“ legitimiert worden, damit sie die historia sacra delegitimieren konnte? Handelt es sich um eine „Entdeckung der Tiefenzeit“ oder um eine „Erfindung der Tiefenzeit“? Für Schulz’s wissenschaftshistorische Analyse könnte all dies aber ohne Belang sein. Ob „wahr“ oder „unwahr“, Tatsache ist, dass lange Zeitskalen von der Geschichtswissenschaft übernommen wurden. Lotze (1968, 7) formuliert: „Sie [Die Geologie, MK] geht davon aus, dass das heutige Erscheinungsbild der Erde das Ergebnis einer langen und wechselvollen Entwicklung ist (…)“ (Hervorhebung hinzugefügt). Schulz schreibt zwar von Zeitkonzepten, scheint aber fundamentale Annahmen auszublenden. Überhaupt fehlt m. E. die Einbeziehung einer „Theorie der Geowissenschaft“ (Engelhardt & Zimmermann 1982), um das „geologische Wissen“ der damaligen Zeit besser einordnen und beurteilen zu können.

Da Tiefenzeit wahrscheinlich das wichtigste Element der Dissertationsschrift ist und prominent im Untertitel auftritt, wäre eine tiefere, unabhängige Analyse der Idee bzw. des Konzepts der Tiefenzeit möglicherweise ein Zugewinn gewesen. So aber scheint der Autor Tiefenzeit bzw. geologische, langzeitliche Entwürfe ebenso kritiklos akzeptiert und übernommen zu haben wie seinerzeit Theologen, Philosophen oder Historiker.

 

Anmerkungen

1 Ein von McPhee (1983, 127) Anfang der 1980er-Jahre geprägter Begriff.

2 Die hier als Buch vorliegende Studie wurde von David Schulz 2017 als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen eingereicht.

 

Literatur

Aubry M-P (2009) Thinking of deep time. Stratigraphy 6, 93–99.

Buckland W (1836) Geology and Mineralogy Considered with Reference to Natural Theology. Vol. 1, London.

Engelhardt W Frh v & Zimmermann J (1982) Theorie der Geowissenschaft. Paderborn.

Lotze F (1968) Geologie. Sammlung Göschen Band 13/13a, Berlin.