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Stephen Jay Gould: „Das Ende vom Anfang der Naturgeschichte“

Übersetzung der amerikanischen Originalsausgabe 2002: I have landed (Frankfurt am Main, 2005)

Nachfolgend eine Rezension von Henrik Ullrich:

… wir sehen die Natur immer mit den Scheuklappen unseres geistigen Kompasses, und in der Regel wissen wir nicht, wie wir unsere Voreingenommenheit überwinden sollen …“ (Stephen Jay Gould 2005, S. 192)

Stephen Jay Gould.

Der Paläontologe Stephen Jay Gould (1941-2002) gilt als der berühmteste Evolutionsbiologe und bedeutendste wissenschaftliche Publizist Amerikas der letzten 30 Jahre. Er war seit 1971 Professor für Geologie und Paläontologie an der Harvard University und Kurator des Universitätsmuseums für Vergleichende Zoologie (gegründet durch Louis Agassiz). Gould verfaßte zahlreiche, z.T. preisgekrönte wissenschaftliche Artikel und Monographien (z.B. Ontogeny and Phylogeny. Cambridge 1977; The Panda’s Thumb: More Reflections in Natural History. New York 1980; Time’s Arrow, Time’s Cycle: Myth and Metaphor in the Discovery of Geological Time. Cambridge 1987; Wonderful Life: The Burgess Shale and the Nature of History. New York 1989; The Mismeasure of Man. New York 1996). Er starb 2002 an den Folgen eines bereits 1981 diagnostizierten Krebsleidens.

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Abb.1: Stephen Jay Gould (1941-2002)

Seit 1974 schrieb er 300 Essays in kontinuierlicher Folge trotz „Krebs, Hölle, Hochwasser und World Series“ in der Kolumne „This View of Life“ der Zeitschrift Natural History, die in 10 Bänden zusammengestellt wurden.

In vielen dieser Essays führt Gould seine Leser aus sehr unterschiedlichen, meist dem aktuellen Erleben entlehnten Blickwinkeln an eine seiner zentralen Fragestellungen heran:

„Wie gelangen Forscher zu ihren komplizierten, vielschichtigen Erkenntnissen, zu jener Mischung aus großartigen Tatsachenentdeckungen von bleibendem Wert und unbewussten gesellschaftlichen Vorurteilen, die von späteren Generationen so erstaunlich leicht zu durchschauen sind?“ (S. 15).

In einer verblüffenden Breite ohne den geringsten Anflug journalistischer Oberflächlichkeit behandelte er so in zahlreichen „intellektuellen Minibiographien“ die „wichtigsten Motive und Konzepte interessanter und engagierter Gelehrter und Wissensdurstiger“ verschiedener Wissenschaftszweige und gesellschaftlicher Gruppen vergangener Jahrhunderte. Häufig stieß er bei seinen Recherchen auf verborgene oder vergessene Quellen, die neue Entdeckungen oder Interpretationen ermöglichten (z.B. Randbemerkungen von Lamarck in seinem ersten Buch über Evolution oder von Agassiz in einer Arbeit von Haeckel [s.u.]).

Ein Tenor vieler dieser Reisen in die Wissenschaftsgeschichte ist immer wieder bei Gould zu hören: die Abhängigkeit von Beobachtungen und der Theorienbildung in der Wissenschaft vom persönlichen, gesellschaftlichen, religiösen und philosophischen Umfeld des Wissenschaftlers.

„Wenn Wissenschaftler sich den Mythos zu Eigen machen, dass Theorien ausschließlich aus Beobachtungen erwachsen, und wenn sie deshalb nicht prüfen, welche persönlichen und gesellschaftlichen Einflüsse sie aus ihrem eigenen Inneren beisteuern, missverstehen sie nicht nur die Ursachen ihrer Meinungsänderung, sondern unter Umständen begreifen sie auch nicht, welche tief greifende, umfassende geistige Verschiebung in ihrer eigenen Theorie verschlüsselt ist“ (S. 456).

Goulds letzter Essayband.

Sein letzter Essay-Sammelband „Das Ende vom Anfang der Naturgeschichte“ vereinigt 31 Essays. Von der persönlichen Betroffenheit über das Geschehen des 11. Septembers 2001 in seiner Heimatstadt New York über die Kritik des Mißbrauchs aktueller Erkenntnisse in der Embryologie durch den amerikanischen Kreationismus bis zur Verteidigung seiner begeisterten Mitwirkung an der Aufführung von Joseph Haydns „Die Schöpfung“ als brennender Kämpfer der Evolution und der Entdeckung der Erkrankung Syphilis spannt sich der inhaltliche Bogen. Vergessene Forscherpersönlichkeiten wie der Physiologe und Embryologe Friedrich Tiedemann (1781-1861) aus Heidelberg, J. F. Blumenbach (1752-1840), einem humanistischen Denker der Aufklärung, oder Isabelle Duncan, die mit ihrem weit verbreiteten Buch „Pre-Adamite Men“ (1860) eine Harmonisierung von Schöpfungsbericht und Evolutionslehre versuchte, erfahren ihre Würdigung.

Wie sich in die Geschichtsschreibung Fehler einschleichen und zu Legenden werden, zeigt der Autor am Beispiel der Deutung der Geschehnisse um Jim Bowie (einem texanischer Freiheitskämpfer, gest. 1836), um gleichzeitig auf analoge Legendenbildungen in der Evolutionslehre hinzuweisen (z.B. die „zunehmende Komplexität“ als zentrales Ordnungsprinzip der Evolution oder Dinosaurier als „geborene Verlierer“). Die fatalen Fehler und Mißgriffe bekannter „geistiger Größen“ wie Siegmund Freud oder Ernst Haeckel, das leidige Fortbestehen ihrer überholten Vorstellungen und Theorien in den Lehrbüchern unserer Zeit werden tiefsinnig aufgedeckt und kritisiert.

Mehrere Essays beschäftigen sich mit dem Wechselspiel von Genen und Merkmalen. Gould wendet sich darin deutlich gegen einen genetischen Determinismus, denn die Merkmale und das Wesen des Menschen sind mehr als das, was die Summe seiner Gene vorzugeben vermögen.

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Abb.2: Punktualistische (links) und gradualistische Evolutionsvorstellung

Bei der hier nur angedeuteten thematischen Vielfalt durchziehen diesen letzten Essay-Sammelband auch alle zentralen Schwerpunkte von Goulds wissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Neben dem bereits angeführten großen Interesse an der Aufdeckung von Legenden in der Geschichte und der Wissenschaft, dem Verhältnis von Forscherpersönlichkeit und seinen wissenschaftlichen Ergebnissen konfrontiert Gould seine Leserschaft immer wieder mit der Entmythologisierung populärer Evolutionsvorstellungen, wie z.B. die gradualistische Vorstellung des Verlaufs der Evolution zu immer höherer Komplexität. Favorisiert wird dagegen von ihm der diskontinuierliche, zufällige und ungerichtete Verlauf der Evolution, dem kein Trend vom Einfachen zum Komplizierten (mit dem Menschen als „Krone“) innewohnt (Punctuated Equilibrium-Theorie, vgl. Abb. 2). Und wenn schon von Siegern der Evolution gesprochen wird, dann gelte dies nur für die Bakterien.

Die Verteidigung der Evolution als nicht zu widerlegende Tatsache durchzieht als weiterer „roter Faden“ Goulds Schaffen. Auf die „Hirngespinste“ der „Wissenschaftsgegner – mit dem ‚jungen Kreationismus‘ als bekanntester moderner Variante“ und auf ihre Versuche nach bildungspolitischen Einfluß in den USA sah er sich häufig zu harschen Angriffen veranlaßt. Ebenso charakteristisch für Goulds Engagement als Wissenschaftler und Humanist ist sein beharrliches Eintreten gegen jegliche Form einer Begründung von Rassismus und des Antisemitismus aus der Evolutionslehre, denen leider durch die Darlegungen von Darwin, Huxley und Haeckel irrige Fundamente errichtet wurden, wie Gould hervorhebt.

Vor dem Hintergrund der aktuell angeheizten und leider sachlich vielfach oberflächlichen Auseinandersetzung zum Kreationismus in den Medien soll im Folgenden ausführlicher auf diejenigen Essays eingegangen werden, in denen Gould seine zum Teil recht eigenwilligen Anschauungen von Religion und Wissenschaft, biblischen Berichten und Schöpfung, von Evolution und Ontogenese zur Sprache bringt.

„Darwin und die Kleingeister von Kansas.”

Anlaß für diesen Essay war die Entscheidung des Board of Education des US-Bundesstaates Kansas von 1999, die Evolutionstheorie als verbindlichen Lehrstoff aus dem Lehrplan der staatlichen Schulen zu entfernen. (Dieser Beschluß wurde 2000 wieder rückgängig gemacht.) Eine weitere Reaktion Goulds („Darwins stattlicheres Haus”) erschien als Editorial in einer Sonderausgabe des Wissenschaftsmagazins „Science“ zum Thema Evolution. Zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion hält er folgendes fest:

„Kein naturwissenschaftliches Gedankengebäude, auch nicht die Evolutionstheorie, stellt für die Religion jemals eine Bedrohung dar – denn diese beiden großartigen Hilfsmittel unseres Denkens wirken in völlig getrennten Bereichen und sind keine Gegensätze, sondern ergänzen einander: die Naturwissenschaft als Untersuchung des tatsächlichen Zustandes der Natur, die Religion als Suche nach spirituellem Sinn und ethischen Werten“ (S. 275).

Gould kann keinerlei Verständnis dafür aufbringen, die naturwissenschaftliche Wahrheitssuche und das Streben nach einer spirituellen und ethischen Daseinsbegründung als Wesen der Religion gegeneinander auszuspielen. Dabei spielt es keine Rolle, auf welchem Weg der inhaltlichen Ausgestaltung die religiöse Sinnsuche verläuft. Naturwissenschaft und Religion sind gleichberechtigte Partner, die zusammenwirken und sich zu respektieren haben als Herrscher „ihrer jeweiligen Domäne”. Beide sind unentbehrlich für das Leben der Menschen. Die Behauptung, es gäbe absolute oder übergeordnete Wahrheiten der Religion, welche die bewiesenen Ergebnisse der Naturwissenschaft in Frage stellen könnten, ist seiner Meinung nach ebenso als Mißbrauch zu werten wie der Versuch, aus wissenschaftlichen Erkenntnissen ethische oder moralische Normen abzuleiten.

Mit den Worten von Thomas Burnet, eines Geistlichen und Naturwissenschaftlers des 17. Jahrhunderts, warnt Gould vor einer biblisch begründeten Wissenschaft: „Es ist eine gefährliche Angelegenheit, die Autorität der Heiligen Schrift in den Disput über die Natur einzubringen … damit nicht die Zeit, die alle Dinge ans Licht bringt, vielleicht auch das als falsch erkennen lässt, was die Schrift angeblich behauptet“ (S. 284).

Die Bibel, für Gould eine Schrift mit menschlichen Schwächen, die aus zahlreichen Quellen und mit sehr unterschiedlicher Zuverlässigkeit „zusammengestoppelt“ sei, werde nur dann einem tieferen Verständnis zugänglich, wenn man nicht von vornherein „irgendwelchen Dogmen gehorchen muss”. Sie ist eine Quelle für ethische Diskussionen und Anweisungen, aber nicht für naturhistorische Abhandlungen. Gegen diese Grundeinsichten verstoßen die Vertreter des Kreationismus oder des „amerikanischen Anti-Intellektualismus“. Sie „ wissen dagegen einfach, was die Bibel sagt. Wenn die Naturwissenschaft etwas anderes behauptet, hat die Naturwissenschaft Unrecht. Fall erledigt“ (S. 183).

An der Tatsache der Evolution gibt es für Gould keinerlei begründeten Zweifel mehr. Die Beweise dafür seien so solide wie die, daß die Erde sich um die Sonne dreht. Auch wenn aufgrund der langen Zeiträume eine unmittelbare Beobachtbarkeit des Prozesses (und damit eine absolute Sicherheit) nicht möglich ist, hält er die Schlußfolgerungen aus den vorhandenen Daten für sicher. Es sei absurd, dieser Vorstellung die Anerkennung zu verweigern.

„Erstens ist die Evolution eine Wahrheit – und Wahrheit kann uns nur freier machen. Zweitens befreit die Evolution den Geist der Menschen“ (S. 281).

Darwins Gedankengebäude als eines der „größten Triumphe des menschlichen Forschergeistes“ liefert für Gould das zentrale Strukturprinzip der gesamten biologischen Wissenschaft. Ein Biologieunterricht ohne Evolutionslehre gliche deshalb einer Chemie ohne Periodensystem oder einer amerikanischen Geschichte ohne Lincoln.

Den amerikanischen Kreationismus stellt Gould als irregeleitete Bestrebung religiöser Fundamentalisten und ihrer Verbündeten aus Politik, Wirtschaft und Gerichtswesen dar mit dem Ziel: die Evolutionslehre aus den Schulen zu beseitigen. In keinem anderen westlichen Land gäbe es eine ähnliche, „politisch einflussreiche Strömung”, ohne Diskussion würde dort das Thema als Grundwissen gelehrt. Die von den Kreationisten geforderte Notwendigkeit einer philosophischen und wissenschaftlichen Prüfung der Evolutionslehre und das gleichberechtigte Lehren einer wissenschaftlichen Schöpfungslehre bezeichnet Gould als „Peinlichkeit“, der sich die amerikanischen Patrioten zu stellen haben. Entgegen dem allgemeinen Trend schlägt er vor, Menschen die mit der „Krücke“ einer biblischen Naturauffassung unterwegs sind, nicht mit Respektlosigkeit oder Verunglimpfungen zu begegnen. Deren Vernunft wird man nur dann gewinnen („von ihren Herzen ganz zu schweigen“, S. 280), wenn mit der richtigen Kombination aus Bildung und Bescheidenheit die Hand zum Miteinander ausgestreckt würde.

Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß einige Vertreter des „alten Kreationismus“ wie C. v. Linné, K.E. von Baer oder L. Agassiz und „Versöhner“ wie I. Duncan von Gould ausdrücklich verehrt werden, da deren Arbeit trotz ihrer „vertretenen Weltanschauung“ von geistiger Größe und der Liebe zur Wissenschaft Zeugnis geben.

Evolution auf dem „Grillrost der Kreationisten”.

Eine Publikation von Michael K. Richardson (1997) zur Embryonenähnlichkeit und zu Haeckels Abbildungen von Wirbeltierembryonen löste in der wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Presse eine Flut von Diskussionen und Stellungnahmen aus (vgl. dazu auch Ullrich 1998; 2005). Im Titel des Essays „Abscheulich!“ übernimmt Gould eine Einschätzung von Louis Agassiz, die dieser erklärte Gegner der Darwinschen Abstammungslehre als Randbemerkung zu Abbildungen von Embryonen in Haeckels Natürlicher Schöpfungsgeschichte gemacht hatte. Auf vier Schwerpunkte konzentriert sich Gould in den folgenden Darlegungen:

  • die Widerlegung des Biogenetischen Grundgesetzes und seiner geschichtlichen Nachfolger,
  • die Wertung von Abbildungen Haeckels als Fälschungen,
  • die Bedeutung dieser Fälschungen für den Wahrheitsgehalt der Evolutionslehre und
  • den Mißbrauch dieser wissenschaftshistorisch gesehen „alten Hüte“ durch den aktuellen amerikanischen Kreationismus.
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Abb.3: Wirbeltierembryonen in der Darstellung Ernst Haeckels, die in der biologischen Literatur sehr oft kritiklos wiedergegeben wird. Sie enthält einschneidende Vereinfachungen und Abänderungen sowie unzulässige Schematisierungen bezüglich des tatsächlichen Erscheinungsbildes der einzelnen Entwicklungsstadien der jeweiligen Individuen. A Fisch, B Molch, C Schildkröte, D Vogel, E Schwein, F Rind, G Kaninchen, H Mensch.

Nach Ansicht von Gould wurde die Idee des Biogenetischen Grundgesetzes „… von der darwinschen Wissenschaft schon um 1910 schlüssig widerlegt und aufgegeben, auch wenn sie sich in der volkstümlichen Kultur erhalten hat“ (S. 396). Die Wiederentdeckung der Mendelschen Vererbungsregeln und das Erwachen der experimentellen Embryologie legten die Abwegigkeit der Vererbungsvorstellungen Haeckels offen. Dieser glaubte wie auch Darwin an die Vererbung erworbener Merkmale im Sinne Lamarcks. Zahlreiche vergleichende Studien zur Embryonalentwicklung um die Jahrhundertwende hatten auch die deskriptive Seite des Gesetzes ad absurdum geführt: Die Embryonen und auch ihre Einzelorgane durchlaufen keine Stadien, die dem ausgereiften Erscheinungsbild ihrer stammesgeschichtlichen Vorfahren entsprechen. Alle Rettungsversuche des Biogenetischen Grundgesetzes durch die Begrenzung seiner Gültigkeit (z.B. als Biogenetische Grundregel), die Definition zahlreicher Ausnahmen oder die Fokussierung auf den Vergleich von embryonalen Strukturen spielten weiterhin „…eine wichtige, meist allerdings keine allein entscheidende Rolle“ (S. 397). Ein letzter Rest dieser Idee klammerte sich an die Gedanken von K.E. von Baer (1828). Dieser beschrieb die Embryonalentwicklung als einen Prozeß, der von allgemeinen Bauplänen zu den speziellen verläuft, so daß die Ähnlichkeit von Embryonen unterschiedlicher Tierformen je jünger sie sind, zunimmt. In der phylogenetischen Lesart bedeutete dies ein Argument für die Annahme, in den jüngsten Embryonalstadien eine Art Urbauplan stammesgeschichtlicher Vorfahren zu sehen. Ernst Haeckels berühmtes Schema zur Embryonalentwicklung von acht Wirbeltierarten hat diesen Gedanken bis in die Gegenwart bildlich am Leben erhalten (vgl. Abb. 3).

Richardson belegte jedoch in der o.g. Arbeit, daß kein solches Stadium der größten Ähnlichkeit bei Wirbeltieren – das auch phylotypisches Stadium genannt wurde – tatsächlich existiert und deshalb auch dieser Auswuchs biogenetischen Denkens aufgegeben werden muß (vgl. dazu Junker & Scherer 2006, Kapitel V.11).

Zum zweiten Punkt, den Abbildungen Haeckels: Gould übt „berechtigte Kritik“ an der Art und Weise, wie Haeckel zahlreiche Abbildungen präsentierte, in dem er „ … den beobachteten Tatsachen der Natur die eigenen theoretischen Überzeugungen…“ überstülpte. Gould verweist auf „erfundene Strukturen von vollkommener geometrischer Regelmäßigkeit“ in den Darstellungen zu den Rädertierchen (Radiolaren) und auf nachgewiesene „Idealisierungen“, „Auslassungen“, „Ungenauigkeiten und regelrechten Fälschungen“ bei der Wiedergabe von Wirbeltierembryonen. Schon zur Zeit Haeckels ließen sich die Fachleute von diesen Darstellungen nicht täuschen, sie erkannten die Fehler und übten scharfe Kritik (z.B. A. Sedgwick, L. Agassiz). Aber das Laienpublikum wurde irregeführt durch Haeckels „beliebteste allgemein verständliche Bücher“, so Gould. Beschämt über die enorme Verbreitung dieser Abbildungen in Schul- und Lehrbücher weltweit resümiert er:

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Wie unterschiedlich die Embryonen tatsächlich gestaltet sind, zeigt diese Abbildung am Beispiel von Embryonen ausgewählter Tierarten. Die Embryonen werden in analogen Phasen wie bei Haeckel dargestellt (von oben nach unten: frühes embryonales „tailbud“-Stadium, mittleres embryonales Stadium, spätes embryonales Stadium). Sie sind zur besseren Veranschaulichung in gleicher Größe dargestellt. Die realen Größenunterschiede zwischen den Organismen in den einzelnen Phasen betragen teilweise das Zehnfache. (Aus der wissenschaftlichen Sammlung von M. K. Richardson, mit freundlicher Genehmigung des Autors).

„Wenn falsche Informationen erst einmal Eingang in die Lehrbücher gefunden haben, sind sie gewissermaßen eingemottet und nicht mehr auszurotten, … Allerdings können wir meines Erachtens zu Recht erstaunt und beschämt darüber sein, dass sie ein ganzes Jahrhundert lang geistlos wieder verwertet wurden, …“ (S. 390).

Entgegen den Behauptungen zahlreicher Kreationisten rüttelt die „Wiederentdeckung“ der Fälschungen Haeckels und die wissenschaftliche Widerlegung seines Biogenetischen Grundgesetzes jedoch nicht an den Grundfesten der Evolutionstheorie. Gould betont mit Nachdruck, weder die Evolution als „Tatsache“ noch die Darwinsche Theorie seien auf eine solche Lehre angewiesen. Die modernen Wege der Einbindung embryonaler Daten zur Klärung stammesgeschichtlicher Zusammenhänge verlaufen davon völlig unabhängig, wie die Arbeit von Richardson zeigen konnte.

Um so kritischer setzt sich Gould in diesem Zusammenhang mit der Argumentation von Michael Behe (Lehigh University) auseinander, der in der New York Times am 13. August 1999 schreibt:

„Die Geschichte der Embryonen ist ein Musterbeispiel für das Prinzip, dass man immer sieht, was man sehen will. Die ersten Skizzen von Wirbeltierembryonen zeichnete Ernst Haeckel, ein Bewunderer Darwins, Ende des 19. Jahrhunderts. In den seither verstrichenen Jahren überprüfte offenbar niemand, ob Haeckels Zeichnungen richtig sind … Angeblich gleich aussehende Embryonen wurden früher als stichhaltiger Beleg für die Evolution angepriesen. Kann man demnach den jüngst erfolgten Nachweis, daß es zwischen den Embryonen starke Unterschiede gibt, als Beleg gegen Evolution werten?“

Wie in den oben genannten Ausführungen dargestellt, waren die Fälschungen schon „eine abgedroschene Geschichte“. Richardson sagte nie, er hätte den Betrug als erster entdeckt. Für die Widerlegung gängiger Vorstellungen war es ihm wichtig, auf die Bedeutung und die Falschheit dieser Zeichnungen einzugehen. Auch die Behauptung Behes, daß man wegen der nicht vorhandenen Ähnlichkeit von Embryonen an der Evolution zweifeln kann, ist nach Gould als eine „Ente“ zu werten, die nun „bereitwillig auf dem Grillrost der Kreationisten landete.“

Für die Evolutionsforschung ergibt sich für Gould aus diesen Zusammenhängen folgender Schluß: „Aber den Darwin- und Evolutionsgegnern liefert Haeckels viktorianische (…) Missetat kein Material mehr, auch wenn wir verlegen (und gut unterrichtet) sein sollten, weil wir erst so spät einem großen, uralten Motto gehorcht haben: Arzt, heile dich selbst“ (S. 401).

Der geistige Kompaß und unsere Scheuklappen.

Abschließend noch einige persönliche Anmerkungen. Dieser Essay-Band – wie übrigens alle anderen – ist äußerst lesenswert und gewinnbringend. In Gould begegnet uns einer der wenigen Universalgelehrten der Gegenwart, der Wissenslücken und Irrtümer gleichermaßen in der Geschichte der Politik, Kunst, Religion, Theologie und der Wissenschaften aufdeckt und beseitigt. Zahlreiche Zusammenhänge (z.B. der Ursprung der Syphilis, die Randnotizen von L. Agassiz zu Haeckel oder in einem früheren Band die „Legende von der flachen Erde“; vgl. den Beitrag von N. Cincinnati in der letzten Ausgabe von Studium Integrale Journal) werden erstmals und einzig durch den Autor in seinen Essays abgehandelt.

Gould gehört zu den wenigen Wissenschaftlern, welche die verwobenen und facettenreichen wissenschaftsthistorischen Grundlagen und Hintergründe der Evolutionstheorie durchschauten und offengelegt haben. Dabei verliert der Autor niemals den Blick auf die häufig zu gering eingeschätzte Bedeutung der weltanschaulichen Positionen des jeweiligen Forschers.

Es ist bemerkenswert, daß Gould Forscherpersönlichkeiten wie C. v. Linné, K.E. von Baer oder L. Agassiz trotz ihrer kreationistischen Weltanschauung und ihres z.T. aktiven Widerstreites gegenüber der Evolutionslehre als Beispiele für „geistige Größe und der Liebe zur Wissenschaft“ benennt. Damit wird deutlich, daß vom biblischen Glauben bestimmte weltanschauliche Grundpositionen und eine kritische Haltung gegenüber der Evolution kein Hinderungsgrund sind, in der Naturwissenschaft Wertvolles zu leisten. Diese Einschätzung wird jedoch von Gould, im Gleichklang mit der aktuellen öffentlichen Meinung, nur noch einigen „alten Kreationisten“ zugebilligt.

Gould respektierte dennoch gleichberechtigt alle Religion und warb sogar für sie. Ohne diese würde der Mensch nie zu ethischen Werten und zu einem Sinn in seinem Dasein finden. Jedoch gestand er der Religion und ihren Lehren keine Form objektivierbarer Wahrheit und tatsächlicher Historizität zu mit irgendeinem Anspruch auf naturwissenschaftliche Relevanz. Gerade diese Entflechtung entspricht eben nicht dem christlichen Verständnis von realitätsbezogener Schöpfung und Offenbarung.

Seine Kritik am modernen Kreationismus ist Reaktion auf das vordergründige und oberflächliche Erscheinungsbild, wie dieser von der Allgemeinheit in Amerika wahrgenommen wird. Eine fehlende Differenzierung und mangelnde Kenntnisse über die große Unterschiedlichkeit innerhalb des amerikanischen und weltweiten Kreationismus verleiten den sonst so fein differenziert arbeitenden Gould zu schmerzlichen Pauschalisierungen. So zum Beispiel, wenn er alle wissenschaftlichen Arbeiten, die von der Wahrheit des biblischen Schöpfungsberichtes motiviert sind, als „Hirngespinste“ und deren Autoren als „Wissenschaftsgegner“ bezeichnet. Leider folgt die Beurteilung des Kreationismus in Deutschland häufig dem gleichen Schema und wiederholt deshalb auch die selben Vorurteile.

Trotz der Genialität Goulds bei der Herausarbeitung von weltanschaulichen und historischen Begrenztheiten hunderter anderer Forscherpersönlichkeiten führte dies nicht zu einer analogen Selbstreflexion oder einer – wenn auch nur theoretischen – Infragestellung seiner eigenen Denkvoraussetzungen. Warum? Der gleiche Preis, den er den Kreationisten abverlangt, wenn sie ihre Grundüberzeugungen in Frage stellen, wäre auch von ihm gefordert worden:

„Ich fürchte, wenn wir die Grenzen unserer geistigen Bequemlichkeit zerbrechen wollen, müssen wir den Tribut in Form ängstlicher Gedanken zahlen“ ( S. 193).

Literatur

Junker R & Scherer S (2006)
Evolution – ein kritisches Lehrbuch. Gießen, 6. Auflage.
Richardson MK, Hanken J, Gooneratne ML, Pieau C, Raynaud A, Selwood L & Wright GM (1997)
There is no highly conserved embryonic stage in the vertebrates. Anat. Embryol. 196, 91-106.
Ullrich H (1998)
Die Wiederentdeckung eines Irrtums. Individualität und Variabilität von Wirbeltierembryonen im Konflikt mit phylogenetischen Konzeptionen. Stud. Int. J. 5, 3-6.
Ullrich H (2005)
Das Ende der klassischen Homologisierung? Neue Methoden in der vergleichenden embryonalen Forschung. Stud. Int. J. 12, 58-65.
von Baer CE (1828, 1837, 1888)
Ueber die Entwicklungsgeschichte der Thiere. Beobachtung und Reflexionen. Königsberg.