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Paläontologie: Fossilien der Erdneuzeit

03.12.21 Mammutzähne – die bisher älteste DNA identifiziert

Die Kenntnis des Erbguts eröffnet uns Zugänge zum Verständnis von Lebewesen, z. B. über ihren Stoffwechsel und auch ihre Anpassungsmöglichkeiten an sich ändernde Umweltsituationen. Dies ist von besonderem Interesse, wenn diese Organismen gegenwärtig nicht mehr beobachtbar sind und nur noch fossile Überreste zur Untersuchung zur Verfügung stehen. Die DNA von Mammuts ist hier ein gutes Beispiel, da von diesen Tieren in Permafrostböden immer wieder neue, gut erhaltene Fossilien zugänglich werden. Hier werden spektakuläre Ergebnisse aus Untersuchungen von Erbgut aus Molaren (= Backenzähne) von Mammuts vorgestellt.

Nach dem Fossilbefund tauchen die ersten Mammuts in Afrika auf; die ältesten Fossilien in Äthiopien werden dem Ende Miozän/Anfang Pliozän (ca. 5 Millionen radiometrische Jahre) zugeordnet. Dort lebte gleichzeitig eine Vielzahl von Rüsseltieren (Proboscidea) (Sanders et al. 2010). Als ausgestorbene Eiszeitriesen genießen Mammuts eine gewisse Popularität, wie sie z. B. in der Filmreihe Ice Age zum Ausdruck kommt.1 Im auftauenden Permafrostboden Sibiriens wird seit Jahren häufiger von Funden von Überresten von Mammuts berichtet, typischerweise Skelettteile und Stoßzähne, seltener auch mit erhaltenen Weichteilen. So erregte ein 2007 von Rentierhirten aus dem Volk der Nenzen auf der Halbinsel Jamal (Nordwest Sibirien) entdecktes, erstaunlich gut erhaltenes weibliches Wollhaar-Mammutkalb (Fisher et al. 2012) öffentliches Aufsehen und befeuerte Hoffnungen, dass Mammuts wieder zum Leben erweckt und gezüchtet werden könnten.

Abb. 1: Wollhaarmammuts (Mammuthus primigenius): künstlerische Darstellung der Spätpleistozänen Landschaft in Nordspanien. (Wikimedia: Mauricio Antón: What Killed the Woolly Mammoth?. PLoS Biology 6 (4): e99. DOI:10.1371/journal.pbio.0060099., CC BY 2.5)

Erste Genomanalysen von Mammuts

1994 veröffentlichten zwei Forscherteams um Svante Pääbo und Erika Hagelberg erstmals DNA-Sequenzdaten aus der mitochondrialen DNA aus Überresten von Mammuts, die im Permafrostboden von Sibirien entdeckt worden waren. Miller et al. (2008) publizierten einen erheblichen Anteil der DNA-Sequenz aus dem Genom eines Wollhaar-Mammuts. Die entsprechenden Proben stammen ebenfalls aus Sibirien und ihr Alter wurde aufgrund von C14-Datierung mit 18.545 ± 70 Jahren angegeben.

Eine spannende und herausfordernde Frage für die Forschung ist, wie lange Makromoleküle, in deren Struktur die genetische Information codiert ist (chemisch betrachtet Polynukleotide), in fossilen Überresten erhalten bleiben können, so dass man DNA-Sequenzen aus den Fragmenten bestimmen kann. Als bisher älteste fossile DNA gilt die von Orlando et al. (2013) aus einem fossilen Pferdeknochen gewonnene DNA. Dieser war aus dem Permafrostboden im Norden Kanadas geborgen worden und wird dem Mittleren Pleistozän zugeordnet. Aufgrund der Datierung einer entsprechenden Aschenlage und weiterer Beobachtungen geben die Autoren ein Alter von 560.000 bis 780.000 Jahre an. Zur Frage der Langzeitstabilität von DNA-Molekülen in Fossilien wird typischerweise die Arbeit von Allentoft et al. (2012) zitiert. Diese Autoren hatten für ihre Arbeit aus 158 fossilen Unterschenkelknochen des ausgestorbenen Laufvogels Moa in Neuseeland aus dem mittleren und späten Holozän DNA isoliert und analysiert. Die Proben wurden jeweils mittels C14 (kalibrierte Radiokarbon-Datierung) datiert und ergaben ein C14-Alter von 620 bis 7839 Jahre. Durch Korrelation von DNA-Konservierung und C14-Alter ermittelten Allentoft et al. eine Halbwertszeit für einen DNA-Abschnitt aus der mitochondrialen DNA (mtDNA) mit 242 Basenpaaren (bp) von 521 Jahren. Das beste mit den empirischen Daten übereinstimmende Modell der Autoren sagt voraus, dass bei Lagerungstemperaturen von 5 °C ein DNA-Fragment vom 30 bp eine Halbwertszeit von 20.000 Jahren hat und dass nach 10 000 Jahren mit Erbgutfragmenten mit einer durchschnittlichen Länge von 88 bp gerechnet werden kann.

DNA aus Mammutzähnen aus Permafrostböden

Van der Valk et al. (2021) haben nun Erbgut aus Mahlzähnen (Molaren) von Mammuts beschrieben, die in Nordostsibirien gefunden worden waren. Aufgrund der Fundumstände werden sie dem frühen bis mittleren Pleistozän zugeordnet und die Autoren geben für zwei der Zähne ein Alter von mehr als einer Million Jahre an.

Diese Arbeit ist vor allem vor dem Hintergrund interessant, dass die vergleichende Genomanalyse als wertvolles Instrument für das Verständnis von Artbildungsprozessen etabliert ist. Nach den gängigen Vorstellungen der Entwicklung von Säugetieren und Vögeln wären dazu Genomdaten mit einem Alter von wenigstens einigen hunderttausend Jahren erforderlich.

Die von van der Valk et al. untersuchten Mammut-Molaren stammen aus der gut dokumentierten, fossilführenden Olyorian-Abfolge Nordostsibiriens. Diese ist biostratigraphisch durch Fossilien von Nagern datiert. Diese Schichten sind sowohl mit paläomagnetischen Umkehrungen als auch mit Faunenüberresten aus der östlichen Beringia verknüpft, und das Alter der Letzteren wurde radiometrisch bestimmt. Die Autoren benannten die drei Molaren nach den Fundorten: Adycha, Chukochia und Krestovka.

Hinsichtlich der Altersangaben zu den drei Molaren nennen die Autoren für Krestovka, dass die Fundschicht auf 1,2–1,1 • 106 radiometrische Jahre (rJ) datiert sei. Dieser Mahlzahn weist eine Morphologie auf, die derjenigen des Steppenmammuts (Mammuthus trongontherii) ähnlich ist. Der Fundort von Adycha ist stratigraphisch weniger eindeutig, die Autoren geben 1,2–0,5 • 106 rJ an. Die Morphologie des Adycha-Molaren ähnelt der von Krestovka. Van der Valk et al. gehen aufgrund der Morphologie von einem Alter zwischen 1,2–1,0 • 106 rJ aus. Bei dem Molar von Chukochia könnte es sich morphologisch um den Mahlzahn einer frühen Form des Wollhaarmammuts (M. primigenius) handeln. Der Fundort deutet auf ein Alter von 0,8–0,5 • 106 rJ hin.

Die aus diesen Molaren isolierten und sequenzierten DNA-Fragmente wurden anhand des Erbguts des afrikanischen (Loxodonta africana) und des mitochondrialen Genoms des asiatischen Elefanten (Elephas maximus) angeordnet. Die mitochondrialen Genome konnten jeweils komplett erhalten werden, während vom Kerngenom 49 • 106 bp (Krestovka) bzw. 884 • 106 bp (Adycha) und 3,67 • 106 bp (Chukochya) erhalten werden konnten.

Mit einem Modell einer molekularen Uhr (Bayesian molecular clock; geeicht mit C14-Daten und der Annahme, dass die Aufspaltung zwischen Afrikanischem Savannenelefant und Mammut 5,3 • 106 rJ zurückliegt) mit den Sequenzdaten der mitochondrialen DNA konnten Alter für die Molaren Krestovka (1,65 • 106 rJ), Adycha (1,34 • 106 rJ) und Chukochia (0,87 • 106 rJ) berechnet werden. Mit den Sequenzdaten der autosomalen DNA erhielten die Autoren für Adycha 1,28 • 106 rJ und für Chukochya 0,62 • 106 rJ. Van der Valk et al. sehen damit für die Molaren von Adycha und Chukochya die geologischen Altersangeben durch die molekularen Daten bestätigt. Die zu hohen Resultate der molekularen Uhr im Vergleich zu den geologischen Altersangaben für Krestovka könnten – so die Autoren – darin begründet sein, dass das Fossil im Verlauf seiner Lagerungsgeschichte aufgearbeitet worden ist und schließlich aus einer jüngeren geologischen Schicht geborgen wurde. Wichtig ist ihnen aber zu betonen, dass mit allen Methoden ein Alter von mehr als einer Million Jahre gefunden wurde.

Interpretation der Genomdaten

Im anderen Schwerpunkt der Arbeit richten van der Valk et al. (2021) ihr Augenmerk auf die stammesgeschichtliche (phylogenetische) Interpretation der erhaltenen Sequenzdaten. Die drei beschriebenen Genome (hier die DNA-Sequenzen der autosomalen DNA, also der Chromosomen mit Ausnahme der Geschlechtschromosomen) fallen aus dem Verteilungsbereich aller bekannten eurasischen Mammuts heraus. Die Tiere, deren Molaren in Adycha und Chukochya gefunden wurden, könnten einer Population angehört haben, aus denen die Wollhaar-Mammuts des späten Pleistozäns hervorgegangen sind. Das Prärie- oder Kolumbianische Mammut (M. columbi) erscheint aufgrund seiner Genomsequenz als ein möglicher Hybrid zwischen den Linien, zu denen Adycha und Chukochya gehörten (ca. 60 %) und einer davon unabhängigen, zu der Krestova gehörte (ca. 40 %).

Die Autoren suchten in den Sequenzdaten der früh- und mittelpleistozänen Mammutgenomen durch Vergleich mit spätpleistozänen Mammutgenomen nach Hinweisen auf Anpassungen an Änderungen im Ökosystem der Tiere, wie z. B. Kältetoleranz. Sie fanden, dass die genetischen Veränderungen, die zu Änderungen der Aminosäureabfolge in den Proteinen führen und damit veränderte Funktionen ermöglichen, zum weit überwiegenden Teil (85,2% und 88,7%) bereits in den ältesten Genomen vorlagen. Es scheint also, dass im Genom die Möglichkeiten zur Nutzung von Funktionen für veränderte Lebensräume in den Tieren bereits zu einer Zeit vorgelegen haben, als die Notwendigkeit zur Anpassung noch gar nicht vorhanden war. Die Anpassungsmöglichkeit war also genetisch bereits angelegt. Dieser Befund passt durchaus zu der Vorstellung, dass Flexibilität von Lebewesen, die es ihnen erlaubt sich auf veränderte Lebensbedingungen einzustellen, sehr früh optional angelegt ist. Dies könnte z. B. bei der Erschaffung dieser Tiere erfolgt sein.

Zusammenfassend zeigen van der Valk et al. (2021) in ihrer Studie, dass DNA-Sequenzen aus Fossilien überraschende Zusammenhänge aufzeigen können. So konnten sie durch Vergleich mit dem Erbgut jüngerer Mammuts aus dem Spätpleistozän und heute lebenden Elefanten Neues über deren mögliche verwandtschaftliche Beziehungen aufzeigen. Das Bemühen der Autoren, die Altersangaben der fossilen Molaren von mehr als einer Million Jahre gut abzusichern, zeigt allerdings auch, dass die angewandten Methoden nicht unabhängig voneinander sind, da alle letztlich auf radiometrische Zeitskalen bezogen sind (s. dazu auch Kotulla 2019). Wenn die Autoren feststellen, dass die isolierte DNA aus Fossilien des frühen und mittleren Pleistozäns im Vergleich zu solchen aus dem Spätpleistozän sehr viel stärker fragmentiert sind, so ist das ein deutlicher Hinweis, dass in den genannten Zeiträumen auch unter Bedingungen des Permafrosts der Zerfall des Erbguts feststellbar ist. Damit stellt sich die Frage, wie zuverlässig die durch radiometrische Datierung bestimmten Zeiträume wirklich sind. Auch wenn die Zahl der Arbeiten steigt, in denen genetische Information aus Fossilien präsentiert wird, so besteht nach wie vor eine gewisse Spannung zwischen dem empirischen Befund über die begrenzte chemische Stabilität von DNA und den dort präsentierten Altern der Fossilien. Letztere werden – auch dort wo unterschiedliche Methoden angewendet werden – letztlich immer von radiometrischen Messungen abgeleitet, die bisher nicht unabhängig davon validiert werden können.

Anmerkung

1 Dies wird auch durch die Arbeit von Wooler et al. (2021) dokumentiert, in der anhand von Isotopen-Messungen im Stoßzahn eines Wollhaar-Mammutweibchens dessen Bewegungsmuster vor 17 000 rJ rekonstruiert worden ist.

Literatur

Callaway E (2021) Mammoth genomes shatter record for oldest ancient DNA. Nature 590, 537–538.

Fisher DC, Tikhonov AN, Kosintsev PA, Rountrey AN, Buigues B & van der Plicht J (2012) Anatomy, death, and preservation of a woolly mammoth (Mammuthus primigenius) calf, Yamal Peninsula, northwest Siberia. Quat. Int. 255, 94–105.

Kotulla M (2019) Verkohlte Baumstämme in Tephra-Ablagerungen des Laacher-See-Vulkans: Neue Radiokarbon-Bestimmungen und ihre Altersinterpretation. https://wort-und-wissen.org/artikel/baumstaemme-tephra-radiokarbon-altersinterpretation/

Miller W et al. (2008) Sequencing the nuclear genome of the extinct woolly mammoth. Nature 456, 387–390.

Orlando L et al. (2013) Recalibrating Equus evolution using the genome sequence of an early Middle Pleistocene horse. Nature 499, 74–78.

Sanders WJ, Gheerbrant E, Harris JM, Saegusa H & Delmer C (2010) Proboscidea. In: Werdelin L & Sanders WJ (eds) Cenozoic Mammals of Africa. University of California Press, Berkeley/ London/ New York, S. 161–251.

van der Valk et al. (2021) Million-year old DNA sheds light of the genomic history of mammoth. Nature; doi.org/10.1038/s41586-021-03224-9

Wooler MJ et al. (2021) Lifetime mobility of an arctic woolly mammoth. Science 373, 806–808.

Autor dieser News: Harald Binder

© 2021, http://www.genesisnet.info/schoepfung_evolution/n297.php

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13.06.16 Stasis: Wie viel Stillstand verträgt die Evolutionstheorie?

Stasis – evolutionärer Stillstand – wird „klassisch“ erklärt durch stabile Umweltbedingungen und daraus resultierend gleichbleibende Selektionsdrücke. Es gibt jedoch systematische Befunde, die dem widersprechen: Markante Umweltänderungen führen regelmäßig nicht zu nennenswerten evolutiven Veränderungen. Das ist einer von vielen Fällen dafür, dass die Beobachtungsdaten evolutionstheoretischen Erwartungen widersprechen.

Von Paläontologen vielfach beschrieben wird die Beobachtung, dass bestimmte fossil überlieferte Arten über einen längeren Zeitraum bzw. in einer umfangreichen Abfolge von Sedimenten im Wesentlichen unverändert bleiben. Wenn solche Arten heute noch leben, nennt man sie „lebende Fossilien“. Dieses Phänomen wird als evolutionäre „Stasis“ (Stillstand) bezeichnet. Manchmal werden solche Befunde als Argumente gegen Evolution gewertet. Allerdings gibt es auch unter Annahme einer evolutiven Entstehung der Arten keinen „Evolutionszwang“; daher steht Stasis nicht notwendigerweise im Widerspruch zu einer Evolutionsgeschichte der Lebewesen.

Stasis kann dennoch zum Problem für die Theorie von einer allgemeinen Evolution werden, wenn sie 1. vorherrschend ist und 2. auch dann beobachtet wird, wenn es massive Umweltänderungen gegeben haben muss. Denn üblicherweise wird Stasis damit erklärt, dass die betreffenden Arten in konstanten Umwelten leben bzw. gelebt haben, folglich ohne nennenswerten Wechsel von Selektionsbedingungen, und es daher keinen Druck zur Veränderung gegeben hat. Unter stark wechselnden Umweltbedingungen wird evolutionär dagegen eher ein Formenwandel erwartet.

Von einem ausgesprochen hartnäckigen Fall von Stasis berichtet der Paläontologe Donald R. Prothero auf dem Blog skeptic.com (Prothero 2012; dort finden sich Angaben zu Fachartikeln). Er schreibt (in teilweise freier Übersetzung): „Bei vier der größten Veränderungen von Klima und Vegetation der letzten 50 Millionen Jahre zeigen die Säugetiere und Vögel keine beobachtbare Veränderung als Antwort auf das veränderte Klima. Wo immer ich diese Daten vorstelle, hat bisher niemand (ich eingeschlossen) eine gute Erklärung für eine solche verbreitete Stasis trotz der offensichtlichen Selektionsdrücke durch verändertes Klima.“1

Das letzte Beispiel von den vieren, die Prothero anführt, sind die letzten 2 Millionen (radiometrischen) Jahre der Eiszeit mit dramatischen Klimaänderungen, die jedoch nicht zu Artbildungen führten, sondern zu Wanderungen der betroffenen Tiere in andere Gegenden. Eine detaillierte Analyse der fossilen Fauna von La Brea bei Los Angeles ergab: „Keines der allgemein vorkommenden eiszeitlichen Säugetiere und Vögel reagierte auf irgendwelche Klimaänderungen bei La Brea während der letzten 35 000 Jahre.“

Das sind eindrucksvolle Bestätigungen für die Aussagen des 1972 veröffentlichten Klassikers von Niles Eldredge und Stephen Jay Gould über die Hypothese des „unterbrochenen Gleichgewichts“ („punctuated equilibrium“; auch als Punktualismus bekannt). Prothero schrieb seinen Beitrag anlässlich des 40-jährigen Jubiläums der Veröffentlichung dieses Artikels. Gould & Eldredge (1977) machten fünf Jahre nach der Veröffentlichung ihres bahnbrechenden Artikels eine erste Bestandsaufnahme und kamen – in den Worten von Prothero – zu folgendem Ergebnis: „Die erste große Entdeckung war, dass Stasis weitaus vorherrschender im Fossilbericht war als es zuvor vorausgesagt worden war. Viele Paläontologen meldeten sich und zeigten auf, dass die geologische Literatur ein einziges gewaltiges Monument der Stasis sei, und es nur relativ wenige Fälle gebe, in denen jemand eine graduelle Evolution beobachtet hätte“ (Hervorhebung nicht im Original).

Gould & Eldredge (1993) nahmen auch das 20-jährige Jubiläum ihres Artikels von 1972 zum Anlass für eine weitere Bilanz und resümieren: „Weil Arten während so intensiver klimatischer Änderungen wie eiszeitlichen Abkühlungen oft stabil bleiben, muss Stasis als aktives Phänomen betrachtet werden, nicht als eine passive Antwort auf unveränderte Umwelten.“3 Das ist das Gegenteil von dem, was mit dem Konzept der Stasis ursprünglich verknüpft wurde.

Für Prothero ist dieser komplett unerwartete, weit verbreitete Befund übrigens kein Grund zur Irritation. Es sei gut, wenn wir statt Antworten mehr Fragen hätten. Wissenschaft komme voran, wenn wir bisher unbekannte Dinge entdecken und merken, dass unsere bisherigen einfachen Antworten nicht funktionieren. Soweit Prothero. Aber es besteht auch die Möglichkeit, dass eine falsche Spur verfolgt wird. Hat der systematische Befund der Stasis den Grund darin, dass der Evolvierbarkeit Grenzen gesetzt sind und außerdem eine Fehleinschätzung der real verflossenen Zeit vorliegt?

Quellen

Prothero DR (2012) Darwin‘s Legacy. http://www.skeptic.com/eskeptic/12-02-15/#feature

ldredge N & Gould SJ (1972) Punctuated equilibria: an alternative to phyletic gradualism. In: Schopf T (ed) Models in paleobiology. Freeman, Cooper and Co., San Francisco, pp 82-115.

Gould SJ & Eldredge N (1977) Punctuated equilibria: the tempo and mode of evolution reconsidered. Paleobiology 3, 115-151.

Gould SJ & Eldredge N (1993) Punctuated equilibrium comes of age. Nature 366, 223-227.

Originalzitate

1 „In four of the biggest climatic-vegetational events of the last 50 million years, the mammals and birds show no noticeable change in response to changing climates. No matter how many presentations I give where I show these data, no one (including myself) has a good explanation yet for such widespread stasis despite the obvious selective pressures of changing climate.“

2 „The first major discovery was that stasis was much more prevalent in the fossil record than had been previously supposed. Many paleontologists came forward and pointed out that the geological literature was one vast monument to stasis, with relatively few cases where anyone had observed gradual evolution.“

3 „Moreover, because species often maintain stability through such intense climatic change as glacial cooling, stasis must be viewed as an active phenomenon, not a passive response to unaltered environments.“

Autor dieser News: Reinhard Junker

© 2016, http://www.genesisnet.info/schoepfung_evolution/n237.php

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19.11.14 Evolution von Komplexität über Fehlentwicklungen?

Können Missbildungen und Abnormitäten das Rohmaterial für eine Zunahme der Komplexität im Laufe von Evolution sein? Nach einem in Spektrum der Wissenschaft vorgestellten Modell einer „selektionsfreien Evolution“ soll dies tatsächlich möglich sein. Doch stellen sich einige Fragen, ob dieser Ansatz realistisch ist.

Unter der Überschrift „Evolution ohne Selektion“ veröffentlichte der bekannte Wissenschaftsjournalist Carl Zimmer in der viel gelesenen Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft im Mai 2014 einen Artikel über eine neue Idee, wie Komplexität im Laufe der hypothetischen Evolution entstehen könnte. „Evolution ohne Selektion“ ist als Schlagwort nicht neu; schon im Jahr 1988 veröffentlichte A. Lima-de-Faria ein Buch unter dem Titel „Evolution without selection“. Eine neue Grundidee zu „Evolution ohne Selektion“ wird im kurzen Intro-Text so zusammengefasst: „Nach Ansicht mancher Forscher können auch ohne Selektionskräfte komplexere biologische Strukturen und Lebewesen entstehen – quasi als Nebeneffekt von zunächst unbedeutenden Fehlentwicklungen.“

In den letzten Jahrzehnten wurde eine ganze Reihe neuer Ansätze entwickelt, mit denen man dem Problem Makroevolution – die Entstehung konstruktiver und funktioneller Neuheiten – zu Leibe rücken möchte (eine kurzgefasste Übersicht findet sich bei Cabej 2013, 249ff.). Das ist ein Indiz dafür, dass hier ein Problem gesehen wird; entgegen oft geäußerten Beteuerungen, die Frage nach den Evolutionsmechanismen sei im Wesentlichen beantwortet. Auch Zimmer (2014, 26) meint, im Großen und Ganzen bestätige die moderne Biologie Darwins Gedanken zur Entstehung von Komplexität, wonach neue Organe unter dem Wirken der natürlichen Auslese schrittwese aufgebaut würden. (Das zur Illustration angeführte Beispiel des Linsenauges ist dafür aber denkbar schlecht geeignet, vgl. Ullrich et al. 2006.) Doch sei fraglich, ob Komplexität immer auf solche Weise entsteht. Zum einen gebe es eine dem Leben innewohnende Tendenz zur Komplexitätssteigerung. Was das sein soll und woher diese kommt, wird allerdings nicht gesagt.

Zum anderen soll eine Komplexitätssteigerung auch ohne Selektion als Nebeneffekt von Mutationen möglich sein. Das sind richtungslose Änderungen des Erbguts. Manchmal entstünden auf diese Weise „einfach so“ komplexe Phänomene. Das klingt zwar fast wie Zauberei, aber Zimmer nimmt hier Bezug auf das Buch „Biology’s First Law“ von McShea und Brandon (2010). Darin wird die Entstehung neuer Komplexität als eine Art „Gesetz“ gefasst, das sie als „zero-force evolutionary law“ bezeichnen, was man als „kraftfreies Evolutionsgesetz“ übersetzen kann. Getestet haben sie dieses Gesetz – so berichtet Zimmer weiter – an Laborstämmen der Taufliege Drosophila. Diese wurden dauerhaft rundum versorgt und hatten somit ein stressfreies Leben bzw. sind vergleichsweise wenig mit Selektionsdrücken konfrontiert. Anders als bei wild lebenden Populationen, die unterschiedlichen Selektionsfaktoren unterworfen sind, können bei Wegfall von Selektion Individuen mit Mutationen, die ihre Vitalität einschränken, überleben und werden nicht ausgemerzt. Denn gewisse Schäden durch Mutationen sind unter den günstigen Lebensbedingungen verkraftbar, während sie unter den härteren Freilandbedingungen nachteilig wären und die betreffenden Formen der Auslese zum Opfer fallen würden. Also müssten die Laborfliegen „allmählich komplexer geworden sein als ihre Artgenossen in der Wildnis“ (Zimmer 2014, 28) – so die Hypothese, weil sich mehr Mutationen ansammeln und weniger durch Auslese verloren gingen.

McShea und seine Doktorandin Leonore Fleming haben die wissenschaftliche Literatur zu 916 Laborlinien der Taufliege nach „Missbildungen“ durchgeforstet und stießen dabei auf eine große Zahl von Abnormitäten, z. B. auf Tiere „mit ungleichen Beinen, mit ungewöhnlich gemusterten oder deformierten Flügeln oder mit ‚verkehrt‘ gebildeten Fühlern (Antennen) und so weiter.“ Diesen (eigentlich altbekannten) Befund werten die Forscher als Bestätigung dafür, dass die Fliegen bei Abwesenheit oder Minderung der Selektion komplexer geworden seien als ihre wild lebenden Verwandten und mithin als Beleg für ihre Hypothese. Zimmer untermauert diese Deutung mit einer Abbildung, in der eine deformierte Drosophila einer normalen gegenübergestellt wird und interpretiert dies in der Legende so: „In der Wildnis sind Taufliegen starken Anpassungszwängen ausgesetzt, die bei einer Laborhaltung wegfallen. Dadurch treten bei Laborstämmen auffallend viele Abweichungen von Körperstrukturen auf, die sich erhalten, weil sie den Tieren nicht schaden (rechts sind Beispiele zusammengestellt). Verglichen mit Wildformen (links) sind die Laborstämme nach Ansicht von Forschern komplexer“ (Zimmer 2014, 27).

Man nimmt es verwundert zur Kenntnis, denn worin besteht überhaupt die Zunahme an Komplexität? Zugenommen hat die Vielfalt an unterschiedlichen Ausprägungen von Körpermerkmalen. Von diesen schränken aber viele die Vitalität des entsprechenden Individuums nachhaltig ein. Ist dann aber der Begriff „Komplexität“, verstanden als formale Steigerung der Vielfalt an Strukturen, überhaupt hilfreich, wenn keine Bewertung der neuen Vielfalt vorgenommen wird? Offenbar wird die größere Anzahl an gestaltlichen Ausprägungen als „Komplexitätszunahme“ bezeichnet, doch besteht kein Zweifel daran, dass es sich dabei um mehr oder weniger ausgeprägte Missbildungen handelt; Zimmer selbst spricht von „Abnormitäten“. In Bezug auf die eigentlich relevante Frage nach einer Erklärung für die Entstehung evolutionärer struktureller oder funktionelle Neuheiten wird dagegen mit diesen Befunden nichts gewonnen.

Kritik

Zimmer erwähnt denn auch in seinem Spektrum-Artikel einige Kritiker dieses Konzepts, die noch andere Einwände bringen. So weist der Paläontologe Douglas Erwin darauf hin, dass auch bei den umhegten Drosophila-Fliegen in vielerlei Hinsicht Selektion massiv wirke und dass schon bei der Larvalentwicklung hunderte Gene genau aufeinander abgestimmt sein müssten, damit die Gewebe und Organe sich funktionsfähig entwickeln könnten. Hier seien schon kleinere Störungen meist tödlich; sie werden durch die so genannte „innere Selektion“ ausgemerzt (auch im Labor sterben viele Drosophila-Mutanten während der Embryonalentwicklung aufgrund von Mutationen).

Auch die Handhabung des Begriffs „Komplexität“ wird von manchen kritisch gesehen. McShea und Brandon entgegnen – so Zimmer (2014, 29) –, sie würden „eine Komplexität betrachten, aus der die andere Komplexität erwachsen könne. Die bei Drosophila beobachteten Veränderungen stellten Ausgangsmaterial für mögliche anschließende Selektionsprozesse dar – seien also eine Grundlage, aus der dann funktionale komplexe Strukturen entstehen könnten, die dem Überleben dienten.“ Doch das ist bestenfalls Hoffnung, kein Ergebnis von Experimenten. Und ob sich diese Hoffnung, gewisses „Ausgangsmaterial“ – und zwar ausgerechnet mehr oder weniger stark ausgeprägte Missbildungen – könne Grundlage für später entstehende neue funktionale Strukturen sein, muss erst noch geprüft werden. Aber die Qualität des Ausgangsmaterials nach dem „zero-force evolutionary law“ gibt nicht zu Hoffnung Anlass, dass es sich dabei um Startrampen für echte evolutionäre Neuheiten handeln könnte (wobei mit „echt“ neue funktionale Strukturen gemeint sind, die auch nicht latent angelegt waren).

Dennoch wird dieser Ansatz auch im molekularen Bereich verfolgt. Zimmer berichtet vom Beispiel der V-ATPase, einer speziellen, aus mehreren Molekülen zusammengesetzten Protonenpumpe, die Ionen durch Zellmembranen schleust. Zur V-ATPase gehört ein Ring aus sechs Proteinen, der bei Hefen aus drei verschiedenen Proteinen besteht (vier Vma3- und je ein Vma11- und Vma16-Protein). Bei Tieren enthält der Sechserring dagegen nur zwei verschiedene Proteine (fünf Vma3- und ein Vma16-Protein). Diese Unterschiede werden evolutionstheoretisch darauf zurückgeführt, dass sich früh in der Evolution der Pilze eine Genverdoppelung ereignete. Eines der beiden Gene wurde später zum Gen für das Vma11-Protein. Man könnte die V-ATPAse der Pilze als komplexer betrachten, weil es aus drei verschiedenen Vma-Proteinvarianten besteht. Der Weg dahin – ausgehend von zwei Varianten – kann modellhaft als selektionsfrei dargestellt werden, was das Modell einer selektionsfreien Zunahme von Komplexität stützen würde. Aber abgesehen davon, dass die Komplexitätszunahme sehr geringfügig ist, wird sie damit erkauft, dass zwei der drei V-ATPase-Proteine der Pilze nicht so vielseitig verknüpfbar sind wie die entsprechenden Proteine der Pumpe bei den Tieren. Insgesamt kann daher kaum von einer Komplexitätszunahme die Rede sein.

Fazit

Gemessen am Erklärungsziel einer Komplexitätszunahme mit neuer Struktur und Funktion von Organen, Stoffwechselkaskaden oder molekularen Maschinen sind die im Artikel von Zimmer erwähnten Beispiele in keiner Weise beweiskräftig. Geringfügige, z. T. nur hypothetische Änderungen oder regelrechte Missbildungen können nicht als Rohmaterial für evolutionäre Neuheiten interpretiert werden. Eine nicht mehr ganz so neue Idee, die anhand der gewählten Beispiele nicht überzeugend präsentiert wird, wird hier mit umfangreichen Hoffnungen verknüpft. Ob diese sich zukünftig erfüllen werden, wird sich zeigen müssen.

Literatur

Cabej N (2013) Building the most complex structures on earth. An epigenetic narrative of development and evolution of animals. Amsterdam: Elsevier.

Ullrich H, Winkler N & Junker R (2006) Zankapfel Auge. Ein Paradebeispiel für „Intelligent Design“ in der Kritik. Stud. Integr. J. 13, 3-14.

Zimmer C (2014) Evolution ohne Selektion. Spektr. Wiss., Mai 2014, 26-31.

Autor dieser News: Reinhard Junker

© 2014, http://www.genesisnet.info/schoepfung_evolution/n220.php

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23.04.13 Neue Texte zur Pferdereihe

Pferde haben den Menschen seit frühester Zivilisation begleitet und fossile Pferde erlauben faszinierende Einblicke in die Paläontologie. Fossile Pferde und deren Stammesgeschichte sind dank Thomas Huxley eine Art Kultbild der Evolution. Seit der Fossilbefund mehr datenbezogen als von Hypothesen gesteuert untersucht wird, wurde das frühere Verständnis von der Evolution des Pferdes jedoch ins Wanken gebracht. Zu den fossilen Pferden und den evolutionstheoretisch diskutierten Vorfahren informiert seit kurzem ein neuer Artikel (Pferdereihe, https://www.genesisnet.info/index.php?Artikel=42861&Sprache=de&l=1) von Nigel Crompton. Neben der „Interessierten“-Version gibt es auch eine ausführliche Version zum Herunterladen als PDF (Pferdereihe, https://www.genesisnet.info/pdfs/Die_Enstehung_der_Pferdartigen.pdf).

Die Interpretation des Fossilbefunds mit Hilfe von Modellen hat anfänglich zur Platzierung der Hyracotherier mit dem berühmten „Urpferdchen“ Hyraoctherium („Eohippus“) und ähnlichen Formen innerhalb der Pferdefamilie (Equidae) geführt, womit diese als die ältesten Pferdeartigen galten. Hyracotherium und andere Hyracotherier-ähnliche Tiere des Eozäns (älteres Tertiär) gelten heute jedoch allgemein als primitive Glieder verschiedener Unpaarhufergruppen. Es gibt aber auch gute Gründe, sie als abgegrenzten, erweiterten Grundtyp („Eufamilie“) zu interpretieren, der stammesgeschichtlich unabhängig von anderen Unpaarhufern ist, also keine Vorfahrenstellung zu den Pferdeartigen einnimmt. (Zu „Grundtypen“ vgl. Heutige Grundtypen, https://www.genesisnet.info/index.php?Artikel=1241&Sprache=de&l=1 und Fossile Grundtypen, https://www.genesisnet.info/index.php?Artikel=1242&Sprache=de&l=1.)

Die ältesten Fossilien, die mit guten Gründen zu den Pferden gerechnet werden können, gehören anchitheren Gattung Mesohippus im Eozän. Die Bemühungen, die Anchitherier (laubäsende Pferde) mit den Hyracotheriern zu verbinden, sind spekulativ und werden durch den Fossilbefund nicht ausreichend unterstützt. Die Einbeziehung der Unterfamilie der Hyracotheriinen zu den Equiden (Pferdeartigen) macht die Familie daher polyphyletisch*. Nicht sicher zu beantworten ist die Frage, ob die Anchitheriinen eine eigene monophyletische* Gruppe unabhängig von den Equiden und damit möglicherweise einen eigenen Grundtyp darstellen. Fossile morphologische* Anhaltspunkte lassen vermuten, dass die gesamte anchither-equine Gruppe eine monophyletische Eufamilie darstellt. Die Gründe für diese Deutung werden in den beiden Artikeln erläutert. Der Hauptunterschied zwischen den anchitheren und equinen Fossilien besteht im typisch hochkronigen Status der Zähne der letzteren, allerdings scheint der Übergang zwischen nieder- und hochkronigen Zähnen nur in der rein equinen Gattung Merychippus stattgefunden zu haben. Im Rahmen des Grundtypmodells können die fossilen Pferdeartigen als vielseitiger Grundtyp mit großem Variationspotential interpretiert werden (vgl. Genetisch polyvalente Stammformen von Grundtypen, https://www.genesisnet.info/index.php?Artikel=1244&Sprache=de&l=1).

*Begriffe:

  • polyphyletisch (= mit mehreren Ursprüngen)
  • monophyletisch (= mit nur einem gemeinsamen Vorfahren)
  • morphologisch (= die Gestalt betreffend)

Autor dieser News: Studiengemeinschaft Wort und Wissen

© 2013, http://www.genesisnet.info/schoepfung_evolution/n196.php

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31.08.11 Über den Ursprung der Fledermäuse

Fledermäuse beeindrucken durch ihre außergewöhnlichen Flugkünste und hervorragende Fähigkeit, sich mittels Echoortung zu orientierten. Ein neuer Genesisnet-Artikel (Entstehung der Fledermäuse, https://www.genesisnet.info/pdfs/Der_Ursprung_der_Fledermaeuse.pdf) beschreibt diese Fähigkeiten und diskutiert Hypothesen über ihre Entstehung.

Mit etwa 1100 Arten in ca. 200 Gattungen und 18 Familien sind die Fledermäuse nach den Nagetieren die zweitgrößte Säugetierordnung und die einzige, zu der aktiv flugfähige Arten gehören. Der überaus wendige Flug der Fledermäuse fasziniert die Wissenschaftler ebenso wie das ausgefeilte Echoortungssystem. Sowohl Flugfähigkeit als auch Echoortung sind bei den Fledermäusen unter den Wirbeltieren unübertroffen. Die Echoortung ist so gut ausgebildet, dass die Fledermäuse unter Einsatz von Ultraschall-Rufen mit ihren Ohren gleichsam sehen können (Echo-Bildsehen). Mit der Flugfähigkeit sind zahlreiche Besonderheiten des Bauplans gekoppelt, die z. B. das Achsenskelett, den Schultergürtel, die seitliche Orientierung der Hinterbeine und die kopfstehende, hängende Ruhestellung betreffen.

Klassisch wurden die Fledermäuse in Kleinfledermäuse und Großfledermäuse unterteilt. Letztere werden wegen der Kopfform vieler Vertreter auch als Flughunde bezeichnet und sind bis auf eine Gattung nicht zur Echoortung befähigt. Aufgrund molekularer Analysen haben sich die Kleinfledermäuse überraschenderweise als paraphyletisch herausgestellt (d. h. sie können nicht alle von einem gemeinsamen Vorfahren abgeleitet werden). Daher muss angenommen werden, dass die Fähigkeit des Echo-Bildsehens zweimal unabhängig entstanden oder bei den Flughunden sekundär verlorengegangen ist. Beide Deutungen sind evolutionstheoretisch sehr problematisch.

Auch viele andere Merkmale sind unter den Fledermäusen so unsystematisch verteilt, dass vielfach mit Konvergenzen* gerechnet werden muss, z. B. bei den Designs der Rufe, die nicht in ein phylogenetisches** Schema gebracht werden können. Die Annahme gleichsinniger Selektionsdrücke ist hypothetisch und erklärt für sich alleine nicht das Auftreten konvergenter Merkmale.

*Konvergenzen (= unabhängige Entstehung trotz Ähnlichkeit)

** phylogenetisch (= stammesgeschichtlich)

Im Fossilbericht erscheinen die Fledermäuse ziemlich unvermittelt im unteren Eozän in weiter geographischer Verbreitung und großer Vielfalt. Erst 2008 wurde eine fossile Gattung (Onychonycteris) entdeckt, deren Merkmale wahrscheinlich darauf hinweisen, dass – evolutionstheoretisch interpretiert – die Flugfähigkeit vor der Fähigkeit zur Echoortung entstanden ist.

Abb. 1: Onychonycteris. (Wikimedia: Von Matthew Dillon – https://www.flickr.com/photos/ruggybear/49172089546/, CC BY 2.0)

Aufgrund des Fehlens von Übergangsformen zwischen Fledermäusen und anderen Säugetieren können aufgrund fossiler Funde und des Baus heutiger Fledermäuse keine nennenswerten Hinweise auf die Entstehung der Flugfähigkeit und des Echoortungssystems gewonnen werden. Neuerdings hofft man aber, aus genetischen Untersuchungen Rückschlüsse auf die Entstehungsweise ziehen zu können. So wurden einige Regulationsgene entdeckt, die eine wichtige Rolle bei der Regulation der Größe der Fingerglieder, der Ausbildung der Flughaut und des Echoortungssystems spielen und deren Ausfall größere Auswirkungen hat. Daher wird spekuliert, dass geringfügige Änderungen von Regulationsgenen zu einer sprunghaften Entstehung der Flügel und vielleicht auch des Echoortungssystems beigetragen haben könnten. Solche Überlegungen erscheinen aber sehr voreilig angesichts der Tatsache, dass ein funktionierender Flugapparat weit mehr benötigt als verlängerte Fingerglieder und einen Ausfall des programmierten Zelltods zwischen den Fingern. Zum Flugapparat gehören zahlreiche neue Muskeln, Bänder und eine spezielle Beschaffenheit der Flughaut, ein ganzes System von Flughäuten und vieles mehr, dessen sukzessives Entstehen unplausibel erscheint. Entsprechendes gilt für das Echoortungssystem.

Der Artikel liegt in drei unterschiedlich ausführlichen Versionen vor und erschien in ähnlicher Form in zwei Folgen in der Zeitschrift Studium Integrale Journal (http://www.wort-und-wissen.de/sij).

„Interessierten“-Version: Entstehung der Fledermäuse, https://www.genesisnet.info/index.php?News=175

„Experten“-Version: Entstehung der Fledermäuse, https://www.genesisnet.info/index.php?Artikel=42846&Sprache=de&l=2

PDF: Entstehung der Fledermäuse, https://www.genesisnet.info/pdfs/Der_Ursprung_der_Fledermaeuse.pdf

Autor dieser News: Studiengemeinschaft Wort und Wissen

© 2011, http://www.genesisnet.info/schoepfung_evolution/n175.php

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19.07.11 Eine Mosaikform besiegelt die Konvergenz des Schlangenkörpers

Ein Fossilfund der Echse Cryptolacerta aus der Grube Messel deutet stark darauf hin, dass Schlangen und die schlangenarten Doppelschleichen unabhängig voneinander entstanden sind. Ihre gemeinsamen Merkmale, die früher als Hinweise auf gemeinsame Vorfahren gewertet wurden, müssen somit als Konvergenzen interpretiert werden. Als Übergangsform zwischen Eidechsen und Doppelschleichen eignet sich Crypolacerta nur bedingt.

Rein äußerlich sehen sie sich sehr ähnlich: Schlangen (Serpentes) und Doppelschleichen (Amphisbaenia) haben einen meist beinlosen, stark verlängerten, dünnen Körper. Nur wenige Schlangenarten haben als Extremitäten sogenannte Aftersporne und auch bei den Doppelschleichen gibt es nur eine Untergruppe, die Handwühlen, die Extremitäten besitzen. Merkmalsvergleiche des Körperbaus legten trotz mancher deutlicher Unterschiede – beispielsweise atmen Doppelschleichen mit dem linken, Schlangen mit dem rechten Lungenflügel – einen gemeinsamen Vorfahren beider Gruppen nahe (Müller et al. 2011, 365 unter Hinweis auf mehrere Studien). Molekulare Studien sprechen jedoch in neuerer Zeit für einen stammesgeschichtlichen Zusammenhang mit den Eidechsen (Lacertidae). Diese Verbindung wurde nun durch ein jüngst beschriebenes, sehr gut erhaltenes Fossil aus der berühmten Fossillagerstätte Grube Messel bei Darmstadt unterstützt. Es handelt sich um Cryptolacerta hassiaca, was „verborgene Echse aus Hessen“ bedeutet. Eine computertomographische Untersuchung erlaubte eine detaillierte Darstellung kleinster Strukturen im Inneren des Skeletts. Es zeigte sich, dass der Schädel sehr kräftig gebaut und als Bohrkopf ausgebildet ist. Besonders dieses Kennzeichen verbindet Cryptolacerta mit den Doppelschleichen, die sich mit dem Schädel ins Erdreich bohren und unterirdisch leben. Insgesamt fanden die Forscher im ganzen Skelett 19 gemeinsame Merkmale von Cryptolacerta und den Doppelschleichen. Sie weisen allerdings darauf hin, dass es häufig Konvergenzen bei Echsen gibt (also Merkmalsübereinstimmungen trotz fehlender Verwandtschaft), doch gebe es auch Merkmale, die nur oder fast nur bei Cryptolacerta und den Amphisbaenia vorkommen (Müller et al. 2011, 366).

Abb. 1: Künstlerische Rekonstruktion von Cryptolacerta. (Wikimedia: Paleo Miguel, CC BY-SA 4.0)

Die Forscher verglichen die Körperproportionen von Cryptolacerta mit denen moderner Eidechsen und schließen aus den Ähnlichkeiten, dass das Tier unter abgestorbenem Laub auf dem Waldboden lebte und nur gelegentlich im Boden grub. Cryptolacerta besaß voll entwickelte Beine, die Füße sind jedoch im Vergleich zu den Beinen relativ klein, aber es sind keine Zehen reduziert.Bisher war man davon ausgegangen, dass beim mutmaßlichen Übergang zur grabenden Lebensweise zuerst der schlangenhafte Körper entstand. Wenn Cryptolacerta tatsächlich eine evolutionäre Übergangsform gewesen sein sollte, muss dagegen angenommen werden, dass zuerst die Ausbildung der Schädel als Bohrkopf erfolgte und sich erst später der Schlangenkörper bildete. Müller et al. (2011) untersuchten auch Gen-Sequenzen zweier Gene des Kern-Genoms, auch diese sprechen wie bisherige molekulare Studien für eine Verbindung der Doppelschleichen mit den Eidechsen. Cryptolacerta reiht sich in die große Zahl von Formen ein, die als Mosaikformen bezeichnet werden können, da es mosaikartig Eidechsen-typische und Doppelschleichen-typische Merkmale verbindet. Mosaikformen lassen verschiedene Deutungen zu, so können sie unter bestimmten Bedingungen als evolutionäre Übergangsformen gedeutet werden. Dazu sollten zum einen möglichst viele Merkmale Übergangscharakter aufweisen, zum anderen sollte die stratigraphische Position, also die zeitliche Einordnung einigermaßen passen. Bezüglich der Merkmale schneidet Cryptolacerta insgesamt offenbar relativ gut ab. Was die Merkmalsübereinstimmungen angeht, beschreiben Müller et al (2011, 366) allerdings eine Reihe von Merkmalen, die Cryptolacerta mit jeweils verschiedenen Gruppen verbinden. Die Kopf-Rumpf-Länge ist mit 7 cm relativ kurz; heutige Doppelschleichen sind meistens 20-30 cm lang. Da der Schwanz jedoch nur unvollständig erhalten ist, ist ein sicherer Größenvergleich nicht möglich. Cryptolacerta hat ein heterodontes Gebiss (verschieden geformte Zähne), während sowohl Eidechsen als auch Doppelschleichen ein homodontes Gebiss besitzen (alle Zähne etwa gleich gestaltet). Dieses abgeleitete Gebissmerkmal passt nicht in eine Übergangsstellung.Was die zeitliche Einordnung betrifft, passt Cryptolacerta aus dem Eozän nicht gut, denn aus Nordamerika sind fossile Doppelschleichen bereits aus dem älteren Paläozän bekannt (Hembree 2007). Natürlich ist die zeitliche Stellung kein zwingendes Gegenargument, aber um Cryptolacerta als passende Übergangsform deuten zu können, müssen einige Zusatzannahmen gemacht werden.Mit dem Fund von Cryptolacerta und der damit verbundenen Deutung ist nach Auffassung der Bearbeiter endgültig klar, dass Schlangen und Doppelschleichen auf getrennten Wegen entstanden sind. Ihre gemeinsamen Merkmale, die früher als Hinweise auf gemeinsame Vorfahren gewertet wurden, müssen somit unabhängig entstanden sein (Konvergenz).

Literatur

Hembree DI (2007) Phylogenetic Revision of Rhineuridae (Reptilia: Squamata, Amphisbaenia) from the eocene to miocene of North America. University of Kansas Paleontological Contributions No. 15, p. 1-20.

Müller J, Hipsley CA, Head JJ, Karjilov N, Hilger A, Wuttke M & Reisz RR (2011) Eocene lizard from Germany reveals amphisbaenian origins. Nature 473, 364-367.

Bilder gibt es hier:

http://www.spektrumdirekt.de/artikel/1071895&template=d_sdwv_bildergalerie&_z=859070

Autor dieser News: Reinhard Junker

© 2011, http://www.genesisnet.info/schoepfung_evolution/n172.php

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22.04.10 Wie ähnlich sind Mensch und Schimpanse?

Neue Daten zum Y-Chromosom des Schimpansen

Molekularbiologische Forschung produziert mit einer ungeheuren und sich steigernden Geschwindigkeit neue Daten. Diese beeinflussen und prägen unser naturwissenschaftliches Verständnis und Bild vom Menschen. In der öffentlichen Wahrnehmung hat die Ähnlichkeit des Genoms zwischen Mensch und Schimpansen (ca. 98 %) etablierte Vorstellungen von deren Abstammungsverhältnissen weitgehend bestätigt. Jüngste Daten zeigen allerdings ein Bild, das eine differenzierte Betrachtung und Interpretation bedarf. Die Genomanalysen hatten zunächst vergleichsweise grobe und lückenhafte Datensätze geliefert.

Inzwischen wurden das Chromosom 21 und das Y-Chromosom des Menschen sehr viel sorgfältiger untersucht und ein Team unter der Leitung von David Page legte kürzlich eine sehr genaue Analyse des Y-Chromosoms von Schimpansen vor (Hughes et al. 2010). Dieses Geschlechtschromosom enthält u. a. Gene, die für die Entwicklung von Spermien von Bedeutung sind. Der Aufbau dieses Chromosoms weist Besonderheiten (z. B. gespiegelte Bereiche, inkl. Palindrome) auf, die eine DNA-Sequenzierung deutlich erschweren.

Zur evolutionären Geschichte des Y-Chromosoms wird üblicherweise davon ausgegangen, dass es seinen Ursprung in Autosomen (paarweise auftretenden Chromosomen) hat. Hauptsächlich durch Genverlust soll aus einem ursprünglichen Chromosomenpaar (mit Ähnlichkeiten zum X-Chromosom) das Y-Chromosom entstanden sein. Dabei gehen Theorien vom abklingenden Gen-Zerfall davon aus, dass mit zunehmender Zeitdauer die Geschwindigkeit des Genverlusts immer langsamer wurde.

Page und seine Mitarbeiter haben die DNA des Geschlechtschromosoms mit einer Genauigkeit von einem Nukleotid pro einer Million Basenpaare analysiert. Beim Genvergleich auf der Basis der aktuellsten bekannten Sequenzdaten des Y-Chromosoms von Mensch und Schimpanse können nach Aussagen der Autoren ca. 30 % der DNA-Sequenzen überhaupt nicht direkt miteinander verglichen werden, d. h. manche Abschnitte fehlen beim Schimpansen oder sind durch andere ersetzt, sodass kein Alignment möglich ist.

Das Y-Chromosom des Schimpansen weist eine komplexere Struktur auf (z. B. mehr Palindrome) und enthält dabei weniger funktionsfähige Gene (diese sind durch Mutation inaktiviert).

Nach gängigen Vorstellungen haben sich die Entwicklungslinien von Mensch und Schimpansen von einem hypothetischen gemeinsamen Vorfahren vor ca. 6 Millionen Jahren getrennt. Bisherige Genomvergleiche mit geringen Unterschieden (ca. 2 %) scheinen dies zu bestätigen. Die jetzt bei Y-Chromosomen dokumentierten Unterschiede entsprechen dagegen einer unabhängigen Entwicklung seit ca. 310 Millionen Jahren.

In einem Gespräch benutzt Page einen bildhaften Vergleich: wenn man das Chromosom 21 vom Menschen mit dem des Schimpansen vergleicht, dann erscheint das wie wenn man ein Spiegelbild vor sich hätte. Beim Vergleich der Y-Chromosomen dagegen sei der Spiegel zersplittert.

Die heute bekannten DNA-Sequenzen von Mensch und Schimpansen verlangen eine sehr differenzierte Erklärung und unterstützen nicht einfach ein etabliertes Bild von der gemeinsamen Abstammung von einem gemeinsamen Vorfahren. Die Datenlage ist komplexer geworden und es ist interessant, dass das Genom gerade dort, wo die Fortpflanzung betroffen ist, eine auffällige Spezifität aufweist. Die mittlerweile ermittelten Daten von Y-Chromosomen sperren sich somit gegen eine Vereinnahmung für eine klassische Vorstellung der Abstammung von Mensch und Schimpanse von einem hypothetischen gemeinsamen Vorfahren. Die gravierenden Unterschiede in der Struktur des Y-Chromosoms werfen neue Fragen nach deren Ursprung auf; die bekannten und üblicherweise angenommenen Mechanismen würden eine deutlichere Ähnlichkeit erwarten lassen.

Man kann darauf gespannt sein, was zukünftige Untersuchungen zum komplexer werdenden Bild der Ähnlichkeit des Menschen mit anderen Lebewesen beitragen werden.

Literatur

Hughes JF, Skaletsky H, Pyntikova T, Graves TA, van Daalen SKM, Minix PJ, Fulton RS, McGrath SD, Locke DP, Friedman C, Trask BJ, Mardis ER, Warren WC, Repping S, Rozen S, Wilson RK & Page DC (2010) Chimpanzee and human Y chromosomes are remarkably divergent in structure and gene content. Nature doi:10.1038/nature08700

Hinweis: Ein ausführlicherer Artikel zu diesen Befunden wird in der kommenden Ausgabe von „Studium Integrale Journal“ erscheinen. (Zum Journal siehe: http://www.wort-und-wissen.de/sij)

 

Autor dieser News: Harald Binder

© 2010, http://www.genesisnet.info/schoepfung_evolution/n147.php

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