Uwe Zerbst & Peter van der Veen (Hg.)
Keine Posaunen vor Jericho?
Beiträge zur Archäologie der Landnahme
3. überarbeitete und erweiterte Auflage 2018
Einführung (und Inhalt als PDF)
Wer kennt sie nicht, die alte Geschichte von den Posaunen Jerichos? Fast eine Woche waren die Israeliten Tag für Tag schweigend um die Stadt gezogen. Dann, am siebten Tag, geschah es. Als die Priester in ihre Hörner bliesen, brach die gewaltige Stadtmauer in sich zusammen. Der Abend sah von der einst mächtigen Stadt nördlich des Toten Meeres nur noch einen Haufen rauchender Trümmer. Was folgte, war ein beispielloser Feldzug. Innerhalb weniger Jahre überrannten die materiell und zahlenmäßig weit unterlegenen Eindringlinge aus der Wüste die Hochkultur Kanaans mit ihren gewaltigen, befestigten Städten und vernichteten sie fast vollständig. So behauptet es jedenfalls der biblische Bericht, der in Abschnitt 2 des einleitenden ersten Beitrags (U. ZERBST und P. VAN DER VEEN: Die Herkunft des Volkes Israel. Biblische Landnahme oder Volkswerdung in Kanaan? 2. Der biblische Bericht der Landnahme) kurz zusammengefasst wird.
Stünde die Geschichte nicht ausgerechnet in der Bibel, kaum jemand hätte je die Frage gestellt, ob wir es mit einer Sage oder einem Geschichtsbericht zu tun haben. Zu phantastisch muten die einzelnen Episoden an. So aber sah es um die Mitte des 20. Jahrhunderts ganz so aus, als hätten die Archäologen die Geschichtlichkeit des alten Berichtes Stück um Stück erwiesen. Es waren vor allem die geborstenen Mauern von Jericho, die Mitte der 1930er Jahre für Schlagzeilen sorgten, als der britische Archäologe John GARSTANG ein Bollwerk freilegte, das während des Untergangs der bronzezeitlichen Stadt ganz offensichtlich kollabiert war.
Was bis in die 1970er Jahre für die meisten Wissenschaftler und Laien Gewissheit war, ist heute in sein Gegenteil verkehrt. Immer mehr Forscher zweifeln nicht nur die Geschichtlichkeit der Ereignisse um Jericho, sondern die Landnahme als Ganzes an. Eine gängige Vorstellung ist, dass die frühen Israeliten einst selbst Kanaanäer waren, sich dann aber aus Gründen, über die sich die Gelehrten streiten, absonderten und eine eigene Identität zu entwickeln begannen. Möglicherweise befanden sich unter ihnen auch einige Sklaven, die aus Ägypten entkommen waren und von dort phantastische Geschichten mitbrachten. Rein zahlenmäßig waren diese Flüchtlinge aber unter den „Proto-Israeliten“ allenfalls eine Randerscheinung, und deshalb sind sie auch für die Archäologen heute kaum von Belang. Sehr viel später, nach einem langen Tradierungsprozess, während dessen die alten Geschichten von Generation zu Generation weitergegeben und dabei immer mehr ausgeschmückt wurden, wurden sie schließlich niedergeschrieben. Darüber, wann dies geschah, sind sich die Gelehrten ebenfalls uneins. In jedem Fall wäre es etliche Jahrhunderte nach den vermeintlichen Ereignissen gewesen. Um ein Beispiel zu erwähnen: Für den renommierten israelischen Archäologen Israel FINKELSTEIN und seinen Mitautor Neil SILBERMAN (Keine Posaunen vor Jericho, C.H. BECK, 2003, S. 111) „verbirgt sich hinter Josuas Maske … König Josia“. Josia herrschte während der zweiten Hälfte des siebten Jahrhunderts v.Chr. über das Südreich Juda. Die beiden wichtigsten Ziele seiner Regentschaft waren die religiöse Erneuerung seines Landes im Sinne des monotheistischen Jahwe-Glaubens und die Ausdehnung seines Einflussbereiches nach Norden, über das Gebiet des alten Nordreiches Israel. Wie der sagenumwobene Feldherr der Landnahme den sehr viel stärkeren Kanaanäern, so stand auch Josia überlegenen Feinden gegenüber, gegen die er sich behaupten musste. Soweit die These, die eine der Spielarten der gegenwärtigen Mehrheitsmeinung ist.
Wie zwingend sind solche Vorstellungen aus wissenschaftlicher Sicht aber tatsächlich? Die Abkehr von der biblischen Schilderung des Exodus aus Ägypten, der vierzigjährigen Wüs-tenzeit und der gewaltsamen Landnahme in Kanaan hin zu der Vorstellung von den Proto-Israeliten, die seit jeher mehr oder weniger friedlich im Lande gelebt hatten, die ein großer Teil der Forscher heute vollzogen hat, hat theologische, aber auch archäologische Gründe. Erstere werden im Anhang des ersten Beitrags dieses Bandes (Theologische Aspekte der Landnahmetradition) kurz andiskutiert. Sehr viel ausführlicher wird in Abschnitt 3 (Archäologisch-historische Modelle der Landnahme) die Entwicklung auf dem Gebiet der Archäologie dargestellt. Zur Sprache kommen
- das lange Zeit dominierende Modell der sog. ALBRIGHT-Schule der Landnahme in den Jahren vor 1200 v.Chr., dem Beginn der Eisenzeit in Palästina,
- die alternative Theorie einer allmählichen Infiltration Kanaans durch Hirten aus den Randgebieten Kanaans nach Albrecht ALT und Martin NOTH,
- die wichtigsten der gegenwärtig dominierenden soziologischen Modelle nach Israel FINKELSTEIN, George MENDENHALL, Norman GOTTWALD, Joseph CALLAWAY, Niels Peter LEMCHE, Gösta AHLSTRÖM, Robert COOTE und Keith WHITELAM sowie
- alternative Ansätze einer Frühdatierung der Landnahme in die Jahre vor 1400 v.Chr., wie sie Autoren wie Hans GOEDICKE, Bryant WOOD, John BIMSON, Steven ROBINSON oder David ROHL vertreten.
Nicht nur das Landnahmemodell um 1200 v.Chr., auch die soziologischen Modelle, die die gegenwärtige Diskussion dominieren, weisen signifikante wissenschaftliche Probleme auf, die in den Abschnitten 3.2 (Die gewaltsame Landnahme gegen Ende der Späten Bronzezeit. ALBRIGHTsche Synthese) und 3.6 (Potentielle Hinweise auf ein Volk Israel in Kanaan vor konventionell 1200 v.Chr.) thematisiert werden. Tatsächlich sind diese Probleme schwerwiegender, als sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Was gegen die soziologischen Modelle spricht, sind archäologische Hinweise auf Israel als Volk (!) in Kanaan lange vor der Eisenzeit, die nach den konventionellen wie auch nach den soziologischen Ansätzen als die Zeit Israels nach einer längeren proto-israelitischen Periode angesehen wird.
Die wissenschaftliche Alternative ist, die Ansetzung der Landnahme in die Jahre vor 1400 v.Chr., für die zudem mehrere biblische Angaben sprechen. Sieht man von der aus verschiedenen Gründen problematischen Annahme des Exodus in Verbindung mit der Kykladeninsel Thera in der Ägäis ab, wie sie v.a. Hans GOEDICKE vertreten hat (Abschnitt 3.7.2: Landnahme-Modelle, die die Ereignisse um den Auszug mit der Explosion der Insel Thera in der Ägäis in Verbindung setzen), so sind es v.a. zwei archäologische Modelle, die das Problem der Frühdatierung zu lösen versuchen:
- der Ansatz Bryant WOODs, nach dem sich die Landnahme am Ende der Spätbronzezeit I ereignete und
- ein Ansatz, der von John BIMSON und anderen vertreten wird und die Landnahme ans Ende der Mittleren Bronzezeit IIC datiert.
Beide Modelle werden in den Abschnitten 3.7.3 (Das Modell nach Bryant WOOD: Landnahme am Ende der Späten Bronzezeit I) und 3.7.4 (Landnahme-Modelle am Ende der Mittleren Bronzezeit) ebenfalls kritisch hinterfragt, mit dem Ergebnis, dass die Herausgeber die Präferenz auf das Modell nach BIMSON u.a. setzen. Während sich die Vorstellungen WOODs im Rahmen der konventionellen Chronologie der Spätbronzezeit in Palästina bewegen, erfordert die Landnahme am Ende der Mittleren Bronzezeit eine Revision dieser Chronologie um etwa 150 Jahre. In Abschnitt 3.7.4 (d) (Das Landnahmemodell am Ende der Mittleren Bronzezeit nach BIMSON) sind Argumente aus der Archäologie der Eisenzeit in Palästina zusammengetragen, die unabhängig von der in diesem Band diskutierten Problematik die Notwendigkeit einer solche Revision nahelegen.
Weitere Argumente für eine chronologische Revision aus dem Kontext des ägyptischen Neuen Reiches und der Dritten Zwischenzeit, die mit der archäologischen Zeittafel Palästinas eng verbunden sind, listet John BIMSON im zweiten Beitrag dieses Bandes (Wann eroberte Josua Kanaan, am Ende der Mittleren Bronzezeit IIC oder am Ende der Späten Bronzezeit I? Abschnitt 3.2: Die ägyptische Chronologie) auf. Ausgehend von einer ausführlichen Schilderung der archäologischen Situation am Ende der Mittleren Bronzezeit IIC (Abschnitt 2: Die Landnahme und das Ende der Mittleren Bronzezeit) und während der Spätbronzezeit I setzt sich BIMSON im Detail mit dem erwähnten Modell WOODs auseinander (Abschnitt 3: Kritik am Landnahmemodell Bryant WOODs während der SBZ I), wobei er insbesondere den archäologischen Befund von Jericho im weiteren kanaanäischen Kontext diskutiert (Abschnitt 3.3: Der archäologische Befund von Jericho).
Ein Problem für jedes Modell, welches das Landnahmeereignis, wie es die Bibel beschreibt, stützt, sind die außerordentlich großen Zahlen der Israeliten, wie sie im 4. Buch Mose und an anderen Stellen geschildert werden. Sechshunderttausend waffenfähige israelitische Männer hätten keine Streitmacht der damaligen Welt zu fürchten gehabt, nicht die Streitwagen Pharaos und erst recht nicht die Bewohner Ka-naans. Sie hätten zudem Teil eines Volkes von zwei bis zweieinhalb Millionen Menschen gewesen sein müssen, das während seines vierzigjährigen Wüstenaufenthaltes Spuren hinterlassen hätte. Es wurden jedoch keine Spuren gefunden. Die Frage der großen Zahlen wird in einem Beitrag eines der Herausgeber (U. ZERBST: Die Größe der israelitischen Bevölkerung während der Wüstenwanderung und Landnahme) thematisiert. Ausgehend von zahlreichen Argumenten, die gegen die großen Zahlen sprechen (Abschnitt 2.2.2: Widersprüche aufgrund der großen Zahlen) werden verschiedene Hypothesen von
- der beabsichtigten propagandistischen Überhöhung (E.W. DAVIES; D.M. FOUTS) über
- anachronistischen Gebrauch von Zahlen aus einer späteren Zeit (A. DILLMANN; W. AL-BRIGHT),
- gematrische Interpretationen (H. HOLZINGER; R. HEINZERLING; M. BARNOUIN), nach denen die Zahlen chiffrierte Inhalte transportierten, bis zu
- einer fehlerhaften Wiedergabe des Terms für „tausend“ (W.M. FLINDERS PETRIE; G.E. MENDENHALL; C.J. HUMPHREYS; R.E.D. CLARK; J.W. WENHAM) diskutiert.
Dabei wird dem letztgenannten Erklärungsmodell das höchste Potential beigemessen. Die verschiedenen Ansätze gehen davon aus, dass die im Hebräischen durch Buchstaben wiedergegebenen Zahlen ursprünglich aus zwei Teilzahlen zusammengesetzt waren, von denen die erste die Anzahl bestimmter Einheiten, und die zweite die Gesamtzahl der Individuen, die in den Einheiten zusammengefasst waren, wiedergegeben hätten. Später wären beide Ziffern irrtümlich zu einer Zahl zusammengezogen worden.
Auch die Modelle nach (d) werden einer kritischen Diskussion unterzogen (Abschnitt 4: Diskussion des Ansatzes nach MENDENHALL; Abschnitt 5: Die Modelle nach CLARK und WENHAM), in deren Ergebnis eine Modifikation vorgeschlagen wird, durch die die im Modell auftretenden Widersprüche minimiert werden (Abschnitt 6: Vorschlag einer Modifizierung des Grundansatzes nach MENDENHALL). Auf der Grundlage dieses Ansatzes hätte die israelitische Bevölkerung vor der Landnahme aus 36000 bis 42000 Menschen bestanden, was grob ein Viertel bis ein Drittel der kanaanäischen Bevölkerung ausgemacht hätte. In Abschnitt 7 (Anwendung des modifizierten Modells auf weitere alttestamentliche Textstellen) wird das modifizierte Modell auf weitere alttestamentliche Texte angewendet, wobei es überwiegend zu akzeptablen Interpretationen führt.
Im weiteren Kontext, jedoch ohne unmittelbare Anbindung an die vorher diskutierte Landnahme-Problematik steht der letzte Beitrag der Herausgeber (U. ZERBST und P. VAN DER VEEN: Das Gericht an den Göttern Ägyptens. Die zehn Plagen in 2. Mose 7-12 aus der religiösen Perspektive des Alten Ägypten), in dem der Versuch unternommen wird, die im zweiten Buch Mose beschriebenen zehn Plagen am Vorabend des Exodus aus der Perspektive der ägyptischen Religiosität darzustellen.