Ähnlichkeiten – Rudimente – Atavismen
Design-Fehler oder Design-Signale?
von Reinhard Junker
Einleitung
Der Bau und die Merkmalsverteilungen der Lebewesen als Indizien für ihren Ursprung
Die Bemühungen, Ursprung und Geschichte der Lebewesen zu rekonstruieren, konzentrieren sich zu einem Großteil auf die Baupläne heutiger Lebewesen. So gehören sechs von acht Gebieten, aus denen nach FUTUYMA (1998, 122f.) Indizien für Evolution gewonnen werden, im weiten Sinne zum Bereich der Vergleichenden Biologie. Dabei ist „Bauplan“ umfassend gemeint: Merkmale der Lebewesen im gestalt-lichen, anatomischen, verhaltensbiologischen, physiologischen, molekularen oder genetischen Bereich. Aus den Baueigentümlichkeiten, den Merkmalsausprägungen und dem Muster der Merkmalsverteilungen – kurz: aus der Vergleichenden Biologie – soll der stammesgeschichtliche Werdegang entschlüsselt werden. Selbstverständlich werden dazu auch Befunde aus der Paläontologie, der Embryologie, der Biogeographie und anderen Bereichen herangezogen, doch gilt die Vergleichende Biologie heutiger Formen als die wichtigste Datenquelle für die Phylogenetik. Der Fossilbericht spielt – abgesehen von groben Tendenzen – wegen des systematischen Fehlens von Zwischenformen in den meisten Fällen keine wesentliche Rolle. „In weiten Bereichen der Fauna und Flora sind wir mangels fossilisationsfähiger Gewebe gänzlich auf den Zeithorizont der Gegenwart beschränkt. … Aber auch bei Einheiten, für welche eine fossile Überlieferung vorliegt, bilden die heute lebenden Arten die Basis der phylogenetischen Verwandtschaftsforschung“ (AX 1988, 137f.). Nach SUDHAUS & REHFELD (1992, 202) sind Fossilien „zum Aufstellen von Stammbäumen der rezenten Organismen nahezu entbehrlich“ (vgl. ebd. auch S. 102f. sowie DONOGHUE et al. 1989, 42ff.; HALLAM 1988, 134ff.; WILLMANN 1990). (Damit soll natürlich nicht gesagt werden, daß Fossilien keine Bedeutung als Indizien für Evolution hätten, doch ist dies ein eigenes Thema, auf das hier nicht eingegangen wird.) Neuerdings gibt es allerdings Tendenzen, dem Fossilbericht (wieder) mehr Gewicht in der phylogenetischen Rekonstruktion zuzugestehen.
Das Ähnlichkeitsmuster der heutigen Lebewesen ist also gewöhnlich die Datenbasis für phylogenetische Rekonstruktionen, insbesondere dann (aber nicht nur), wenn Fossilfunde fehlen oder selten sind.
Schon früh wurde erkannt, daß die Vielfalt der Lebewesen hierarchisch nach abgestuften Ähnlichkeiten geordnet werden kann (Abb. 1) – was a priori keine Selbstverständlichkeit ist. Allerdings besagt die Ordnung der Lebewesen aufgrund von Merkmalsverteilungen an sich nichts unmittelbar über deren Entstehung und Geschichte. Eine abgestufte Ordnung der Lebewesen kann nämlich durchaus auch auf der Basis einer Schöpfungslehre erwartet werden (vgl. Kapitel 5) und wurde in vordarwinistischer Zeit auch erfolgreich (d. h. mit Zuwachs an Erkenntnis) so gehandhabt.1 Mit dem Durchbruch des Evolutionsgedankens wurde diese Ordnung jedoch als Hauptindiz für eine allgemeine Evolution der Lebewesen neu interpretiert.
Aber nicht nur aus den Merkmalsverteilungen der Lebewesen werden Rückschlüsse auf ihren stammesgeschichtlichen Werdegang gezogen, sondern auch aus dem Bau ihrer Organe und aufgrund der verwirklichten lebendigen Konstruktionen. Evolutionsbiologen glauben Spuren von Vorläuferformen in den heutigen Arten feststellen zu können. Die Rede ist hier zum einen von „rudimentären Organen“, die als rückgebildet oder gar als funktionslos betrachtet werden (siehe Kapitel 6 und 7), zum anderen aber auch von durchaus funktionstüchtigen Organen, die seltsam konstruiert erscheinen und deren Konstruktionen ein evolutives Erbe offenbaren sollen (siehe Kapitel 4).
Aus den Konstruktionen der Lebewesen wurde in „vorphylogenetischer Zeit“ (vor DARWIN) häufig ein ganz anderer Rückschluß gezogen: Ein Designer müsse angenommen werden, der zielorientiert die durchdacht erscheinenden Konstruktionen geplant und erschaffen habe. Dieses „alte“ Design-Argument hat in den letzten Jahren neue Aufmerksamkeit in der kritischen Diskussion um die Evolutionstheorie auf sich gezogen. Die Rede ist von „Design-Signalen“ (REMINE 1993) oder von „irreduzibler Komplexität“ (BEHE 1996), die sich einer Entstehung durch bekannte Evolutionsmechanismen widersetzen sollen. Lebensstrukturen scheinen demnach so beschaffen zu sein, daß sie auf einen Schöpfer als Urheber verweisen. Evolutionstheoretiker versuchen den Spieß dieses Arguments umzudrehen, indem sie auf tatsächliche oder vermeintliche Unvollkommenheiten in der Schöpfung verweisen („Unvollkommenheits-Argument“). Dem „Design-Konzept“ werden „Design-Fehler“ entgegengehalten, die den Schluß auf einen intelligenten Designer vereiteln sollen.
Das Unvollkommenheits-Argument scheint als Beleg für eine allgemeine (Makro-)Evolution (s. Abschnitt 1.3) der Lebewesen einen besonderen Stellenwert zu besitzen, denn es wird häufig angeführt. Beispielsweise beschäftigt sich FUTUYMA in der neuesten Ausgabe seines renommierten Lehrbuchs über Evolution (1998) im einleitenden und einem weiteren Kapitel mit diesem Thema. Nach seiner Auffassung spreche die Einheitlichkeit des Knochengerüsts der Extremitätenknochen der Landwirbeltiere nicht für Design: „Design does not require that the same bony elements form the frame of the hands of the primates, the digging forelimbs of moles, the wings of bats, birds, and pterosaurs, and the flippers of whales and penguins“ (FUTUYMA 1998, 122). Erstaunlicherweise wird dieser Satz vom Autor nicht weiter begründet (in Kapitel 4 werden wir uns mit diesem Argument befassen). Dieses häufiger zitierte Beispiel zeigt, daß keineswegs nur „rudimentäre Organe“ als Indizien gegen „Design“ aufgeboten werden. Weiter meint FUTUYMA, daß die unterschiedliche Konstruktion des Tintenfisch- und Wirbeltier-Linsenauges inkonsistent mit der Annahme eines allmächtigen Schöpfers sei, der optimales Design verwirklichen könne. Es überrascht, solche Sätze inmitten von Ausführungen über biologische Sachverhalte zu finden, denn es handelt sich offenkundig um theologische Spekulationen über die mutmaßliche Schaffensweise eines „Designers“. Popularisiert wurde dieses Argument vor allem durch Stephen J. GOULDs „Panda-Prinzip“ (s. Kapitel 4).
Zielsetzung
Vor dem angerissenen Hintergrund ergeben sich folgende Zielsetzungen dieses Buches:
- Es sollen die Argumentationsstrukturen dargelegt und kritisch hinterfragt werden, anhand derer aufgrund des Baus und der Merkmalsverteilungen der Lebewesen auf ihren stammesgeschichtlichen Ursprung geschlossen wird.
- Es soll geprüft werden, inwieweit die vorgebrachten Argumente theorieabhängig sind, ob es also im Bereich der Vergleichenden Biologie theoriefreie Belege oder gar Beweise für einen evolutionären Ursprung der Arten gibt. In diesem Zusammenhang wird es auch um das o. g. „Unvollkommenheits-Argument“ („Design-Fehler“) gehen.
- Weiter soll der Frage nachgegangen werden, welche konkreten Erwartungen an das Merkmalsspektrum und an den Bau der Lebewesen aus der Evolutionstheorie abgeleitet werden und ob diese Erwartungen den vorgefundenen Merkmalsverteilungen entsprechen.
- Schließlich sollen die Befunde der Vergleichenden Biologie auch auf die Möglichkeit einer nicht-evolutionären Deutung befragt werden. Hier wird das „Design-Konzept“ im Mittelpunkt der Betrachtung stehen.
Inhalt
Zusammenfassung
- Evolutionstheoretische Interpretationen des Ähnlichkeitsmusters der Lebewesen, von Besonderheiten ihrer Baupläne, rudimentären Organen, Rekapitulationsentwicklungen (biogenetische Grundregel) und Atavismen werden dargelegt und bewertet.
- Homologe Ähnlichkeiten können zwar als Hinweise auf eine Stammesgeschichte gewertet bzw. unter der Vorgabe einer Stammesgeschichte erwartet werden, sie erzwingen aber eine phylo-genetische Deutung nicht.
- Eine widerspruchsfreie (kongruente) Rekonstruktion der Stammesgeschichte ist anhand des Merkmalsmusters i. d. R. nicht möglich. Morphologisch-anatomisch oder auch molekular bestimmte Homologien können daher für sich alleine nicht als sichere Indizien für gemeinsame Vorfahren ihrer Träger gewertet werden. Folglich ist es auch nicht möglich, allein aufgrund des Merkmalsmusters der Lebewesen auf evolutionäre Abfolgen zu schließen.
- Homologien von Adultstrukturen entsprechen häufig weder homologen Genen noch homologen ontogenetischen Entwicklungswegen. Es ist nicht gelungen, das „Wesen“ von Homologien anhand irgendwelcher Eigenschaften der Lebensstrukturen konkret und allgemeingültig zu fassen.
- Auch der Bau der Lebewesen liefert keine zwingenden Indizien auf eine evolutive Herkunft der Lebewesen. Sog. „Design-Fehler“ sind nicht sicher nachweisbar und haben sich oft als Fehldiagnose erwiesen. Das „Unvollkommenheits-Argument“ ist zudem im Kern theologischer Natur.
- Umgekehrt können sowohl aus dem Bau als auch aus der Verteilung der Merkmale der Lebewesen sog. „Design-Signale“ erkannt werden, die eine Deutung im Rahmen eines schöpfungstheoretischen Kontextes erlauben.
- Es gibt kein theorieunabhängiges und zugleich testbares Kriterium für „Rudiment“, „Rekapitulationsentwicklung“ und „Atavismus“. „Funktionslosigkeit“ und „Diskrepanz von Struktur und Funktion“ sind nicht sicher feststellbar. Andere Kriterien sind theorie-abhängig. Bei der Interpretation „rudimentärer“ Strukturen spielt das zugrundegelegte Ursprungskonzept die wesent-liche Rolle.
- Man unterscheidet zwischen regressiver Rudimentation (nur Rückbildungen), neoplastischer Rudimentation (das rückgebildete Organ übernimmt eine neue Funktion) und metaplastischer Rudimentation (die Funktion des rückgebildeten Organs wird von einem anderen übernommen).
- Regressive Rudimentation ist mikroevolutiv erklärbar. Die Ursachen für diese Rudimenta-tionsweise sind in konkreten Fällen jedoch oft umstritten.
- Unter evolutionstheoretischer Voraussetzung werden neo- und metaplastische Rudimentationen aufgrund von Ähnlichkeiten mit homologen Vollorganen erkannt.
- Das Hauptproblem der Evolutionslehre ist die Erklärung der Mechanismen von neo- und metaplastischer Rudimentierung, da solche Änderungen über den bekannten und experimentell belegten mikroevolutiven Bereich hinausgehen würden. Vor allem sind die notwendigen Selektionsdrücke vielfach völlig unklar.
- Das Hauptproblem unter schöpfungstheoretischen Voraussetzungen ist das Auffinden von Funktionen rudimentärer Organe, von rekapitulativ gedeuteten Entwicklungswegen oder von atavistisch interpretierten Entwicklungspotenzen. Damit wird durch den schöpfungstheoretischen Ansatz Forschung und biologischer Erkenntniszuwachs induziert.
- Die Biogenetische Grundregel kann im wesentlichen nur aufgrund des Vorliegens von Homologien begründet werden. Die Deutung bestimmter Entwicklungswege als Umweg- oder Rekapitulationsentwicklung ist nicht zwingend, da auf diesen Wegen ein Selektionsdruck besteht und nicht ausgeschlossen werden kann, daß diese Entwicklungswege optimal sind.
- Atavismen können von anderen Mißbildungen nur durch die Vorgabe der Evolutionstheorie (bzw. eines speziellen Ablaufs einer Evolu-tion) unterschieden werden. Das Vorliegen eines Atavismus kann nur dann als gesichert gelten, wenn diese im mikroevolutiven Rahmen auftreten (z. B. bei Bastardierungen).