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Evolutionsbiologen, die Makroevolution für unerklärt halten



Zusammengestellt und kommentiert von Reinhard Junker

Akzeptieren tatsächlich fast alle Biologen heutzutage die Evolutionsanschauung? Ist in der Wissenschaftswelt Evolution wirklich alternativlos?

Die Antwort auf diese Frage muss zweigeteilt werden.

1. In der akademischen Welt ist die Evolutionsanschauung tatsächlich in einem Maße fest im Denken verankert, wie man es als Laie kaum nachvollziehen kann. Aber gehört zu wissenschaftlichem Arbeiten nicht auch Kritik und Widerspruch – jedenfalls wenn es sachliche Gründe dafür gibt? Ja natürlich, aber bei Evolution als Rahmentheorie ist es anders. Wer diesen Denkrahmen erkennbar verlässt, hat im Wissenschaftsbetrieb keine Chance.

2. Innerhalb des evolutionären Rahmens jedoch gibt es durchaus kritische Einschätzungen über die Mechanismen der als wahr vorausgesetzten Evolution. Und diese Kritik kann sogar sehr weit gehen. Solche Kritiker lehnen also eine allgemeine Evolution der Lebewesen nicht ab, sind aber der Meinung, dass noch nicht herausgefunden wurde, wie innovative Evolution – Makroevolution – funktioniert. Sie räumen ein, dass evolutionäre Änderungen bisher nur im Sinne von Mikroevolution experimentell nachgewiesen wurden, also Änderungen, die man als Anpassung, Spezialisierung, Feinabstimmung oder als Ausprägung schon vorhandener Variation charakterisieren kann.

Nachfolgend werden dazu einige Zitate von evolutionstheoretisch orientierten Wissenschaftlern aus unserem Jahrhundert zusammengestellt. Die betreffenden Forscher sollen nicht für eine Fundamentalkritik von Evolution vereinnahmt werden! Sie alle akzeptieren den grundsätzlichen Deutungsrahmen „Evolution“ und in der Regel auch den zugrunde liegenden Naturalismus.

Die Zitate wurden ins Deutsche übersetzt (Hervorhebungen und Texte in eckigen Klammern hinzugefügt). Die Originalzitate befinden sich im Anhang.

Zitate

Kirschner & Gerhart (2005) sind der Auffassung, dass erst mit dem Wissen, das Ende des 20. Jahrhunderts bekannt wurde, die Frage nach der Entstehung evolutiver Neuheiten angegangen werden kann. Somit war diese Frage zuvor nicht nur unbeantwortet, sondern gar nicht beantwortbar – und dementsprechend erst recht nicht Mitte des 19. Jahrhunderts zur Zeit von Charles Darwin

Müller (2003, 51): „Obwohl sie [die kanonische neodarwinistische Theorie] sich auf der phänotypischen Ebene [Ebene des Erscheinungsbildes] mit der Veränderung bestehender Teile befasst, zielt die Theorie weder auf die Erklärung des Ursprungs von Bestandteilen noch auf die morphologische Organisation noch auf Innovationen ab. In der neodarwinistischen Welt ist der treibende Faktor für morphologische Veränderungen die natürliche Selektion, die die Veränderung und den Verlust von Teilen erklären kann. Aber die Selektion hat keine Innovationskraft: Sie beseitigt oder erhält das Bestehende. Die generativen und ordnenden Aspekte der morphologischen Evolution fehlen somit in der Evolutionstheorie.“ (1)

Arthur (2004, 36): „Wie kann eine Evolutionstheorie ernstgenommen werden, die vorgibt, die Entstehung der Lebewesen mit Billionen von Zellen ausgehend von einzelligen Anfängen zu erklären, welche sich in den Nebeln der präkambrischen Zeit verlieren, wenn alles, was sie uns erzählt, darin besteht, dass verschiedene Zerstörungsraten die Zusammensetzung des Erbguts der Populationen verändern? Wie sind die neuen Varianten, die die natürliche Selektion in den Populationen verbreitet, erstmals erschaffen worden? Obwohl der Begriff ‘Schöpfungswissenschaft’ anrüchige Assoziationen beinhaltet, weil er häufig von einigen religiösen Fundamentalisten verwendet wird, brauchen wir wirklich eine Art ‘Schöpfungswissenschaft’ (in einem anderen Sinne dieses Begriffs) als einen Hauptbestandteil der Evolutionstheorie.“ (2)

Moczek AP (2008, 432): „Während Biologen in den letzten anderthalb Jahrhunderten große Fortschritte beim Verständnis der Diversifizierung bestehender Merkmale gemacht haben, sind wir relativ wenig weitergekommen, wenn es darum geht, zu verstehen, wie neuartige Merkmale überhaupt erst entstehen.“ (3)

Ledon-Rettig et al. (2008): „Eines der wichtigsten ungelösten Probleme der Biologie ist das Verständnis der Entstehung neuartiger, komplexer Phänotypen, sowohl in der Embryonalentwicklung als auch in der Evolution.“ (4)

Rudel D & Sommer RJ (2003, 21+32): „Die Skelettarchitektur der Wirbeltiere ist sehr unterschiedlich, doch die Grundlage für Veränderungen der groben Skelettmorphologie ist fast völlig unbekannt.“ – „Wir wissen größtenteils nicht, welche Veränderungen in den Genomen zu morphologischen Neuerungen geführt haben, wie diese genetischen Veränderungen die Schaltkreise der Bahnen verändert haben oder wie Bahnen zusammengeführt werden, um neue Module anzusteuern, die für den Aufbau neuer Strukturen verantwortlich sind.“ (5)

Keys et al. (1999, 532): „Der Ursprung neuer morphologischer Merkmale ist ein altbekanntes Problem der Evolutionsbiologie. Neuerungen entstehen durch Veränderungen in der Entwicklung, aber die Art dieser Veränderungen ist weitgehend unbekannt.“ (6)

Monteiro & Podlaha (2009, 215): „Diese Arbeit ist schwierig und zeitaufwändig, aber die Kernfrage – der genetische Ursprung neuer und komplexer Merkmale – ist wahrscheinlich immer noch eine der wichtigsten und grundlegendsten unbeantworteten Fragen in der heutigen Evolution.“ (7)

Martin et al. (2012, 12632): „Obwohl Tiere eine reiche Vielfalt an Formen und Mustern aufweisen, sind die genetischen Veränderungen, die die Entstehung komplexer Formen erklären, immer noch unklar.“ (8)

Wagner (2007, 530). „Kann es eine befriedigende Antwort auf makroevolutionäre Fragen geben? … Es ist noch viel zu früh, um zu sagen, ob diese Herausforderung erfolgreich beantwortet werden kann …“ (9)

Newman (2009, 40): „Phänotypische Plastizität ist die Grundvoraussetzung für alle biologischen Systeme. Selbst wenn also bei einigen modernen Formen, z. B. der Schnabelgröße und -form bei Finken, Anpassung nachgewiesen werden kann, ist dies kaum paradigmatisch dafür, wie makroevolutionäre Veränderungen stattgefunden haben.“ (10)

Saenko et al. (2011, 1): „Die Entstehung und Diversifizierung neuer Merkmale ist eine der spannendsten ungelösten Fragen der evolutionären Entwicklungsbiologie.“ (11).

Pigliucci (2001, 241): „… die Entwicklung phänotypischer Neuerungen waren wichtige fehlende Elemente in der neodarwinistischen Synthese und sind immer noch Gegenstand vieler Debatten, aber wenig empirischer Untersuchungen.“ (12).

Cleves et al. (2014): „Wie sich das Grundmuster des Körpers in der Natur entwickelt, bleibt weitgehend unbekannt.“ (13)

Fodor & Piattelli-Palmarini (2010, 153): „Wir wissen nicht, was der Mechanismus der Evolution ist.“ (14)

Carroll (2005, 37): „Über ein Jahrhundert lang war eine detaillierte Kenntnis von der Bildung oder der Geschichte komplexer Organe und Körperteile weit außer Reichweite.“ (15)

Wagner (2014, 125): „Wir sind uns noch nicht sicher, welches die Erklärung für Neuheiten ist. … Ich vermute, dass der Ursprung von Neuheiten auch natürliche Selektion benötigt, ebenso wie zusätzliche Mechanismen, aber worin diese bestehen, muss erst noch durch weitere empirische Forschung herausgefunden werden.“ (16)

Müller (2017, 3) über die Moderne Synthese / Synthetische Theorie und ihre populationsgenetischen Prinzipien: „Die Theorie weicht zum Beispiel weitgehend der Frage aus, wie die komplexen Organisationen der Organismenstruktur, der Physiologie [biophysikalische Lebensvorgänge], der Entwicklung oder des Verhaltens – deren Variation sie beschreibt – tatsächlich in der Evolution entstehen, und sie bietet auch kein angemessenes Mittel, um Faktoren einzubeziehen, die nicht Teil des populationsgenetischen Rahmens sind, wie entwicklungsbedingte, systemtheoretische, ökologische oder kulturelle Einflüsse. Die Kritik an den Unzulänglichkeiten des MS-Rahmens [moderne Synthese] hat eine lange Geschichte.“ (17)

Moczek (2023, 433): „Der Ursprung neuartiger komplexer Merkmale ist eine zentrale, aber weitgehend ungelöste Herausforderung in der Evolutionsbiologie.“ (18)

Quellen

Arthur W (2004) Biased Embryos and Evolution. Cambridge University Press.

Carroll SB (2005) The Making of the Fittest. W. W. Norton & Company.

Cleves PA, Ellis NA, Jimenez MT, Nunez SM, Schluter D, Kingsley DM & Miller CT (2014) Evolved tooth gain in sticklebacks is associated with a cis-regulatory allele of Bmp6. Proc. Natl. Acad. Sci. 111, 13912-13917.

Fodor J & Piattelli-Palmarini M (2010) What Darwin got wrong. New York. [Rezension]

Keys DN, Lewis DL, Selegue JE, Pearson BJ, Goodrich LV, Johnson RL, Gates J, Scott MP & Carroll SB (1999) Recruitment of a hedgehog regulatory circuit in butterfly eyespot evolution. Science 283, 532-534.

Kirschner MW & Gerhart JC (2005) The Plausibility of Life. Resolving Darwin’s Dilemma. Yale University Press New Haven and London. [Rezension]

Ledon-Rettig CC, Pfennig DW & Nascone-Yoder H (2008) Ancestral variation and the potential for genetic accommodation in larval amphibians: implications for the evolution of novel feeding strategies. Evol. Dev. 10, 316-325.

Martin A, Papa R, Nadeau NJ, Hill RI, Counterman BA, Halder G, Jiggins CD, Kronforst MR, Long AD, McMillan WO & Reed RD (2012) Diversification of complex butterfly wing patterns by repeated regulatory evolution of a Wnt ligand. PNAS 109, 12632-12637.

Müller GB (2003) Homology: The Evolution of Morphological Organization. In: Müller GB & Newman SA (Hrsg.) Origination of Organismal Form. Beyond the Gene in Developmental and Evolutionary Biology (Vienna Series in Theoretical Biology) MIT-Press, pp 51-69.

Müller GB (2017) Why an extended evolutionary synthesis is necessary. Interface Focus 7: 20170015, https://dx.doi.org/10.1098/rsfs.2017.0015.

Moczek AP (2008) On the origins of novelty in development and evolution. BioEssays 30, 432-447.

Moczek A (2023) When the end modifies its means: the origins of novelty and the evolution of innovation. Biol. J. Linn. Soc. 139, 433–440.

Monteiro A & Podlaha O (2009) Wings, Horns, and Butterfly Eyespots: How Do Complex Traits Evolve? PLoS Biology 7, 209-216. (e1000037)

Newman S (2009) in: Mazur S (2009) The Altenberg 16: An Exposé of the evolution industry. Scoop Media, Wellington, New Zealand. (2010: North Atlantic Books Berkeley, California.

Pigliucci M (2001) Phenotypic plasticity. Beyond Nature and Nurture. Baltimore and London.

Rudel D & Sommer RJ (2003) The evolution of developmental mechanisms. Dev. Biol. 264, 15-37.

Saenko SV, Maralva MSP & Beldade P (2011) Involvement of the conserved Hox gene Antennapedia in the development and evolution of a novel trait. EvoDevo 2011, 2:9.

Wagner PG (2007) The current state and the future of developmental evolution. In: Laubichler MD & Maienschein J (eds) From embryology to evo-devo. A history of developmental evolution. Cambridge, Mass., S. 525-454.

Wagner GP (2014) Homology, genes, and evolutionary innovation. Princeton University Press.

Originalzitate

(1) „Only a few of the processes listed above are addressed by the canonical neo-Darwinian theory, which is chiefly concerned with gene frequencies in populations and with the factors responsible for their variation and fixation. Although, at the phenotypic level, it deals with the modification of existing parts, the theory is intended to explain neither the origin of parts, nor morphological organization, nor innovation. In the neo-Darwinian world the motive factor for morphological change is natural selection, which can account for the modification and loss of parts. But selection has no innovative capacity: it eliminates or maintains what exists. The generative and the ordering aspects of morphological evolution are thus absent from evolutionary theory.“

(2) „How can an theory of evolution that purports to explain how creatures with trillions of cells arose from unicellular beginnings lost in the mists of pre-Cambrian time be taken seriously if all it tells us is that different rates of destruction can alter the genetic composition of populations? How are the new variants that natural selection spreads through populations created in the first place? Although the term ‘creation science’ carries disreputable connotations because ot its frequent use by some religious fundamentalists, we truly need some ‘creation science’ (in the other sense of that phrase) as a major component of evolutionary theory.“

(3) Given its importance and pervasiveness, the processes underlying evolutionary innovation are, however, remarkably poorly understood, which leaves us at a surprising conundrum: while biologists have made great progress over the past century and a half in understanding how existing traits diversify, we have made relatively little progress in understanding how novel traits come into being in the first place.

(4) „One of biology’s most significant unresolved issues is to understand how novel, complex phenotypes originate, both developmentally and evolutionarily.“

(5) „The skeletal architecture of vertebrates is widely divergent, yet the basis for change in gross skeletal morphology remains almost entirely unknown.“ – „For the most part, we do not know the changes in the genomes that resulted in morphological novelties, the way these genetic changes have altered the circuitry of pathways, or how pathways are coopted to target new cassettes responsible for building new structures.“

(6) „The origin of new morphological characters is a long-standing problem in evolutionary biology. Novelties arise through changes in development, but the nature of these changes is largely unknown.

(7) „This work is difficult and time consuming, but the question at its core—the genetic origin of new and complex traits—is probably still one of the most pertinent and fundamental unanswered questions in evolution today. At stake is the possibility of testing whether novel complex traits arise from a gradual building of novel developmental networks, gene by gene, or whether pre-existent modules of interacting genes are recruited together to play novel roles in novel parts of the organism.“

(8) „Although animals display a rich variety of shapes and patterns, the genetic changes that explain how complex forms arise are still unclear.

(9) „Can There Be a Satisfactory Answer to Macroevolutionary Questions? … While it is much too early to say whether this challenge can be answered successfully …“

(10) „Phenotypic plasticity is the primitive condition of all biological systems. Thus, even if adaptation can be demonstrated in some modern forms, e. g., the beak size and shape in finches, this is hardly paradigmatic of how macroevolutionary change took place.“

(11) „The origin and diversification of novel traits is one of the most exciting unresolved issues in evolutionary developmental biology.“

(12) „… the evolution of phenotypic novelties have been major missing links in the Neo-Darwinian synthesis, and are still the subjects of much debate but little empirical study“ (241). „It is one (relatively easy) thing to understand how something can be altered by natural selection and historical accidents once it is in place, but much more difficult to produce a testable theory of how the necessary genetic machinery for a character or plasticity emerged in the distant past“ (242).

(13) „How body pattern evolves in nature remains largely unknown

(14) „… we don’t know what the mechanism of evolution is.“

(15) „For more than a century, detailed knowledge of the formation or history of complex organs and body parts was far out of reach.“

(16) „The explanation for adaptation is natural selection. We are not yet sure what the explanation for novelties is. … I suspect that the origin of novelties also requires natural selection as well as additional mechanisms, but what they are will have to be determined by more empirical research.“

(17) „For instance, the theory largely avoids the question of how the complex organizations of organismal structure, physiology, development or behaviour—whose variation it describes—actually arise in evolution, and it also provides no adequate means for including factors that are not part of the population genetic framework, such as developmental, systems theoretical, ecological or cultural influences. Criticisms of the shortcomings of the MS [modern synthesis] framework have a long history.“

(18) „The origin of novel complex traits constitutes a central yet largely unresolved challenge in evolutionary biology“ (433).