Buchbesprechung: I. Velikovsky: Erde im Aufruhr
Inhalt
- Der Autor
- Verbreitung des Buches
- Plattentektonik
- Findlinge, Eiszeiten
- Ein paar weitere Beispiele, die zum Widerspruch auffordern
- Wertung
- Leserschaft
- Bedenken
- Zusammenfassung
Der Autor
Immanuel Velikovsky (1895-1979) wurde in Rußland geboren. Wegen seiner jüdischen Abstammung war er gezwungen, sein Medizinstudium zunächst im Ausland zu beginnen. Frankreich, Palästina und Schottland waren seine ersten Studienorte. 1914 kehrte er nach Rußland zurück, um sein Studium in Moskau fortzusetzen. Nach dem Abschluß 1921 war er zunächst Assistenzarzt in Berlin und eröffnete 1923 eine Arztpraxis in Palästina; dort widmete er sich auch dem Studium der Psychoanalyse.
Als Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Scripta Universitatis“ hatte er Kontakt zu führenden Persönlichkeiten seiner Zeit. Mit S. Freud stand er im Briefwechsel. Die Beschäftigung mit der Psychoanalyse führte ihn schließlich 1939 nach New York; beim Studium historischer Texte stellte er fest, daß hebräische (Bibel) und ägyptische Schriften offenbar über die gleichen Katastrophen berichten. Einmal aufmerksam geworden, fand er vergleichbare Hinweise in Überlieferungen aus den verschiedensten Kulturen.
Aus diesen und weiteren naturwissenschaftlichen Überlegungen heraus folgerte er, daß die Erde und ihre Bewohner nur ein bis zwei Jahrtausende vor Christus gewaltige kosmische Katastrophen erlebt hatten bzw. ihnen zum Opfer gefallen waren. Als Ursache dieser Katastrophen sah er den wiederholten nahen Vorbeiflug des Planeten Venus an der Erde an, wobei sich auch der Mond vom Erdkörper abgelöst haben soll. Velikovsky veröffentlichte seine Hypothesen u.a. in den Büchern „Welten im Zusammenstoß“ (Worlds in Collision) im Jahr 1950 und „Erde im Aufruhr“ (Earth in Upheavel) im Jahr 1956.
Verbreitung des Buches
Von den Fachwissenschaftlern wurden die Gedanken Velikovskys fast einhellig abgelehnt. Einige wenige Forscher forderten aber eine offene Auseinandersetzung mit diesem Gedankengut, was letztendlich der Popularität Velikovskys zuträglich war, oder wie Sullivan kommentiert: „. . . bald war Velikovsky an den Universitäten als Symbolfigur für die Auflehnung gegen wissenschaftliche Orthodoxie berühmt und beliebt.“
Inzwischen ist die Velikovsky-Welle abgeebt, doch seine Bücher finden sich noch immer in Bibliotheken und Buchhandlungen und faszinieren auch heute noch interessierte Leser. Selbst wenn man diese Bücher mit eher kritischer Haltung liest, wird man sich dem Ansturm scheinbar schlüssiger Argumente kaum entziehen können. Wer allerdings über eine solide Grundausbildung in wenigstens einem betroffenen Fach verfügt, wird schnell mißtrauisch werden.
Mit einigen Jahrzehnten Abstand und nach deutlichen Umwälzungen, die die Geologie inzwischen erfahren hat, wird man zweierlei feststellen:
1. Sofern Velikovsky Themen behandelt hat, von denen Wissenschaftler und Laien schon seit Jahrhunderten angetan sind, wird man im Vergleich zur heutigen Diskussion viele Gemeinsamkeiten entdecken. Hervorzuheben wäre hier die Frage nach dem Einfluß von Meteoriteneinschlägen auf die Umwelt.
2. Überall dort, wo er an aktuelle Fragen der Geologie anknüpfte, haben anschließende Entdeckungen seine Vorstellungen widerlegt.
Da er sich in seinen Büchern gegenüber künftigen Forschungsergebnissen aufgeschlossen zeigte, konnte er schon bald erkennen, wie sich die Kluft zwischen neuen Beobachtungen und seinen Vorhersagen vertiefte. Die Altersdatierungen nach der Radiokarbon-Methode und der Dendrochronologie (Baumringanalyse) wurden verfeinert und lieferten keine Hinweise auf ungewöhnliche erdgeschichtliche Ereignisse in den Jahrtausenden vor Christus. Auch fanden sich im Verlauf der Erkundung der Mondoberfläche keine Anzeichen dafür, daß der Mond vor kurzem noch ein Teil des Erdkörpers war.
Plattentektonik
Weitaus gravierender wirkte sich eine neue Leittheorie der Geologie, die sog. Plattentektonik, auf seine Argumente aus. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren die geologischen Zeugnisse eines ehedem milden Klimas in der Antarktis schwer zu erklären. Ortsfeste Kontinente und Meeresbecken hätten bedeutet, daß die Antarktis schon immer am Südpol gelegen hat – es sei denn, die Erdachse hätte sich verlagert. Das liest sich bei Velikovsky so (Seite 63):
„Ohne drastische Veränderungen in der Lage der Erdachse oder der Gestalt der Umlaufbahn oder beider zusammen konnten keine Bedingungen existiert haben, unter denen tropische Pflanzen in Polarregionen gedeihen konnten. Sollte irgend jemand davon nicht überzeugt sein, so möge er versuchen, Korallen am Nordpol zu kultivieren.“ Eine andere Erklärung für diesen Befund wären natürlich mobile Kontinente; neue Forschungsergebnisse ließen nur noch diese Erklärung zu.
Der größte Teil des Buches ist mit der Theorie der Plattentektonik überholt. Gerechterweise muß erwähnt werden, daß sich die Plattentektonik erst in den 60er Jahren durchzusetzen begann und schlecht in der ersten Auflage von 1956 als Deutungsrahmen bestimmter Beobachtungen erwartet werden darf. Damals stand jedoch die Kontinentalverschiebungstheorie von Alfred Wegener immer noch zur Diskussion. Wenn auch von den Fachleuten meist abgelehnt, bot die Verschiebung der Kontinente die ideale Erklärung für vergleichbare geologische Ablagerungen, die von Ozeanen getrennt waren oder für die Zeugnisse ehemaliger Vereisungen in Regionen, die heute in gemäßigten Breiten liegen.
Die Kontinentalverschiebung als mögliche Erklärung wird von Velikovsky zurückgewiesen (Seite 136-140), und somit ist der Weg für eine exotische Lösung der damals offenen Fragen frei. In der Tat waren die Geowissenschaften in der Mitte unseres Jahrhunderts an Grenzen gestoßen; die bis dahin geltenden Leitvorstellungen konnten die jüngsten Beobachtungen, z.B. die Resultate der Meeresbodenerforschung, nur noch ungenügend erklären. Eine neue Leittheorie war überfällig, und sie erwuchs in der abgewandelten Kontinentalverschiebungstheorie, jetzt „Plattentektonik“ genannt.
Die Plattentektonik hatte weitreichende Konsequenzen für viele Teilgebiete der Geowissenschaften. Im Rahmen dieser Theorie werden heute Gebirgsbildungen, Vulkanismus, Erdbeben, Lagerstätten, Gestalt und Alter des Meeresbodens uvm. gedeutet. Auch an bestimmte Klimazonen gebundene geologische Ablagerungen fanden nun eine Erklärung: nicht nur als Hinweise auf das Klima selbst, sondern auch als Indikatoren für die geographische Breite, in der die Kontinente einst lagen. Man braucht also keine Verlagerung der Erdachse, um Korallen am Nordpol zu kultivieren; man kultiviere sie dort, wo sie am besten gedeihen und warte dann, bis sich der Kontinent zum Pol verschiebt.
Findlinge, Eiszeiten
Schon auf den ersten Seiten seiner geologischen Dokumentation erlaubt sich Velikovsky einen groben Schnitzer, durch den seine Arbeitsweise nur allzu deutlich wird. Die Findlinge (z.B. in Nordeuropa) werden nicht der Tätigkeit von Eis, sondern gewaltigen Wasserfluten zugeschrieben. Als Kronzeuge dient H.B. de Saussure mit einem Zitat von 1779 (!); die Theorie der Vereisung und dem Gletschertransport wurde erst einige Jahrzehnte später entwickelt. Auch wenn V. in einem späteren Kapitel die Eiszeittheorie nachreicht, so hat er sich längst für seine Deutung entschieden und ist fortan bemüht, eine klare Beschreibung und Zuordnung der Eiszeitablagerungen zu vermeiden.
Genaugenommen muß zwischen den Ablagerungen in Nordamerika, Nordeuropa und den Alpen unterschieden werden. Hier wurde nicht irgendwelches Gesteinsmaterial aus beliebigen Richtungen herantransportiert. Die Transportwege lassen sich in vielen Fällen rekonstruieren und bis zum Ausgangspunkt der jeweiligen Gesteine zurückverfolgen. Das Verteilungsmuster der Ablagerungen schließt einen Transport durch gewaltige Wasserwellen aus; daß Gletscher ihre Gesteinsfracht auf Hügeln zurücklassen ist weitaus einleuchtender als Velikovskys Wasserfluten, die die Gesteinsbrocken auf Berge werfen.
Wie der Autor diese Thematik behandelt, ist symptomatisch für seine Arbeitsweise: Eine repräsentative Darstellung wichtiger Daten wird vermieden. Schon die schlichte Zusammenstellung von Geländebeobachtungen, zunächst ohne irgendeine Interpretation, unterbleibt. Denn allein die Beschreibung dessen, was der Geologe im Gelände wahrnimmt, würde die von Velikovsky beabsichtigte Aussage unmöglich machen. Deshalb wird der Geländebefund nur auszugsweise angesprochen und zugleich so unklar dargestellt, daß „Erde im Aufruhr“ als beste Deutung erscheint. Jeder Fachwissenschaftler wird dazu ganz entschieden „So geht’s nicht“ sagen.
Ein paar weitere Beispiele, die zum Widerspruch auffordern
- Mammutfunde. Eine ungewöhnlich hohe Zahl an relativ gut erhaltenen Mammutkörpern findet man in Sibirien und zusammen mit anderen Tieren auch in Alaska (Seite 15-17). Die Tierreste in Alaska kamen während der Goldsuche zutage; es zeigte sich, daß das Durcheinander der Knochenfunde durch den Abbau bedingt war. Der Boden wurde mit starken Wasserstrahlen weggespült, wobei das Material intensiv vermengt wurde und die ursprüngliche Lagerung zerstört wurde. Auch wenn die Tiere vermutlich geologischen Katastrophen zum Opfer fielen, so sind die von Velikovsky bevorzugten Wasserfluten die unwahrscheinlichste Erklärung. Überhaupt bleibt es völlig rätselhaft, warum die vom Autor reichlich aufgezählten Höhlenfunde in der Regel nur Landtiere umfassen und die zu erwartenden Meerestiere, die von den vermuteten Wasserfluten transportiert worden sein müssen, nicht zu finden sind.
- Fußabdrücke. Die Abdrücke prähistorischer Tiere lassen sich in vielen geologischen Formationen finden. Weil die heutigen Abdrücke von Rindern und Pferden in morastigem Untergrund nicht erhalten bleiben, sondern vom nächsten Regen zerstört werden, meint Velikovsky, für die Erhaltung älterer Abdrücke ungewöhnliche Bedingungen annehmen zu müssen. Seine Folgerung beruht auf einem kleinem, für den geologischen Verstand aber entscheidenden, Mißverständnis. Unsere heutigen Wiesen und Weiden sind ganz sicher kein Modell für den Lebensraum, in dem einst die Dinosaurier ihre Spuren hinterließen. Die Fährten unserer Nutztiere haben praktisch keine Chance, konserviert zu werden, während die Abdrücke von Lebewesen, die in häufig überschwemmten Flußmündungen leben oder lebten, eher einmal zugeschüttet und mit der Zeit verfestigt werden; mit anderen Worten: Fossilisation ist abhängig vom einstigen Lebensraum.
- Gesteinsfelder. Ausgedehnte Gesteinsfelder in der arabischen Wüste werden als Meteoritenschauer gedeutet (S. 115-117). Die Gesteinsansprache geht nicht über die äußeren Kennzeichen „scharfe Kanten“ und „schwarz versengt“ hinaus. Hier wäre nur darauf hinzuweisen, daß man ein Gestein näher untersuchen kann und dann feststellen wird, ob es irdischen oder kosmischen Ursprungs ist. Eine vernünftige Beschreibung steht in der Geologie vor der Interpretation. Velikovsky verzichtet darauf.
- Zeitliche Stellung der Ablagerungen. Der Autor bringt Beispiele für die rasche und katastrophische Verschüttung von Organismen. Nur ganz verschwommen läßt er durchblicken, daß diese Ereignisse zu verschiedenen Zeiten stattfanden. Nach der geologischen Zeitvorstellung sind es oft Hunderte von Millionen Jahren, die dazwischenliegen. Auch daß viele Katastrophen nur lokal auftraten, wird verschwiegen. Wer sich so weit wie Velikovsky mit Geologie beschäftigt hat, muß wissen was er tut; man kann die Vorgehensweise im Grunde nur als Desinformation bezeichnen.
- Geschichtliche Anmerkungen. Zur historischen Entwicklung einzelner Leitgedanken der Geologie und auch der Evolutionstheorie werden eine Reihe von Zitaten gebracht (z.B. im Abschnitt: „Die Geburt der Eiszeit-Theorie“). Obwohl die Darstellung über weite Strecken korrekt ist, haben sich unverständliche Fehldeutungen eingeschlichen. Auf den Seiten 239-242 gewinnt man den Eindruck, die Kurzzeitvorstellung habe sich in der Geologie bis zu Darwins „Entstehung der Arten“ gehalten. Dem ist aber nicht so. Die meisten Geologen (auch viele Sintflut-Geologen) rechneten mit langen, unbestimmbaren Zeiträumen.
Wertung
Nicht nur zu den genannten Beispielen, sondern zu praktisch jedem Thema lassen sich massive Einwände vorbringen. Das Erscheinungsjahr der ersten Auflage (1956) könnte als Entschuldigung gelten, da ein Teil der angerissenen Fragen erst in den letzten Jahrzehnten intensiv bearbeitet wurde und demzufolge neue Aspekte auftauchten. Umso mehr muß es verwundern, daß der neue Erkenntnisstand nicht in die jüngste Auflage (deutsch: 1980, Vorwort von 1977) eingearbeitet wurde. Es mag angemessen sein, ein für die wissenschaftliche Entwicklung bedeutendes Buch oder einen Klassiker neu aufzulegen; bei einem Buch, in dem wissenschaftliche Aussagen derart verdreht werden wie in „Erde im Aufruhr“, wirkt das eher peinlich.
Bei aller Kritik gründet das Buch auf einer richtigen Überlegung: Im Verlauf der Erdgeschichte muß es Zusammenstöße mit kosmischen Körpern gegeben haben. Die Spuren sind auf dem Mond nicht zu übersehen; folglich ist auch für die Erde ein vergleichbares Bombardement anzunehmen. Im Gegensatz zum Mond herrschen auf der Erde jedoch Bedingungen, die ein Relief wie beispielsweise einen Einschlagskrater schnell einebnen oder zerstören. Deshalb wurden vermutete Kraterstrukturen schon seit langem kontrovers diskutiert. Erst in den letzten Jahrzehnten wurden – auch als Folge der Satellitenbilder – zahlreiche Krater auf der Erde entdeckt; genauere Untersuchungen bestätigten die außerirdische Ursache ihrer Entstehung. Besonders gravierend hat sich die Arbeit von Vater und Sohn Alvarez und Mitarbeitern (1980) ausgewirkt, die deutliche Spuren eines Meteoriteneinschlags an der sog. Kreide/Tertiär-Grenze feststellten, zu der Zeit also, als die Dinosaurier ausstarben. Seitdem gilt der Einfluß außerirdischer Körper auf das Geschehen an der Erdoberfläche als gesichert, unklar ist jedoch immer noch, welchen Einfluß diese Katastrophen letztlich auf geologische und organische Prozesse haben.
Daß die historischen Überlieferungen aus unterschiedlichsten Kulturen in vielen Fällen auf ein Impaktgeschehen hinweisen, hat kürzlich das Geologenehepaar Tollmann eindrucksvoll aufgezeigt (siehe Literaturhinweis am Ende). Man könnte die jüngste Entwicklung deshalb so deuten, als habe Velikovsky doch Recht gehabt. Dieser Eindruck wäre aber nicht berechtigt. Die Vorstellungen über Art und Umfang kosmischer Einflüsse weichen bei Velikovsky erheblich von den denkbaren Möglichkeiten ab (nach seiner Auffassung spielt der Planet Venus ein wichtige Rolle); die geologischen Hinweise, mit denen er seine Auffassung begründet, bilden ein ziemliches Wirrwarr von zeitlich nicht zusammengehörigen und sachlich nicht zu rechtfertigenden Beschreibungen. Bei aller Kritik an Velikovsky sollten zwei Aspekte nicht übersehen werden. Seine Bücher konnten nur deshalb so weite Verbreitung finden, weil selbst bei den Verlagen in geologischen Fragen Unwissenheit herrscht. Wäre die Geologie stärker in der schulischen Ausbildung verankert, so würden Autoren wie Velikovsky auf ein anspruchsvolleres Publikum treffen. Ihre Hypothesen wären dann entweder besser begründet oder würden sich gleich erübrigen.
Ein weiterer Faktor ist das Vorbild der Geologie selbst. Leider erschien das Wort „Katastrophe“ für fast hundert Jahre regelrecht aus dem geologischen Denken verbannt, obwohl viele Geländebefunde nur eine „katastrophische“ Deutung zuließen. In den letzten Jahrzehnten hat sich in der Geologie ein Wandel vollzogen: Geologische Katastrophen hat es gegeben, sie werden klar als solche angesprochen und die früheren Fehlinterpretationen werden mitsamt der möglichen Motive aufgearbeitet. Man darf jedenfalls nicht verschleiern, daß die Leugnung geologischer Katastrophen Autoren wie Velikovsky Vorschub geleistet hat; auch wenn sich die Wissenschaftler größtenteils von seinen Arbeiten distanzierten, haben sie durch eine zu einseitige Sichtweise sicherlich zu ihrer Entstehung beigetragen.
Leserschaft
Die Aufnahme des Buches von Seiten der Fachwissenschaftler wird Velikovsky nicht ernsthaft erwartet haben, ja es scheint so zu sein, daß es gar nicht an die Fachleute adressiert ist. Vielmehr wirkt es auf eine breite Leserschaft anziehend, die vom interessierten Laien oder vom Schüler bis hin zum Universitätsprofessor reicht. Wer keine Grundausbildung in Geologie oder einem verwandten Fach besitzt, kann die durchgehende Manipulation der behandelten Probleme kaum oder gar nicht erkennen.
Beim Lesen drängt sich der Vergleich mit einer religiösen Splittergruppe auf. Ähnlich wie bei einer zweifelhaften Gruppierung, die Teile der Bibel in den Rahmen ihrer spezifischen Anschauungen preßt, werden hier wissenschaftliche Daten gezielt ausgewählt, neu gruppiert und für eine bestimmte Leitidee passend gemacht. Es geht letztlich nicht darum, eine wissenschaftliche Alternative anzubieten, sondern Anhänger (oder mit anderen Worten: Gläubige) zu rekrutieren. Daß sich die Leser an ein Kontaktzentrum „Podium Akademische Freiheit“ in der Schweiz mit weiteren Fragen wenden können, unterstreicht den eher religiösen Charakter. In den Rahmen wissenschaftlicher Kommunikation paßt dieses Angebot jedenfalls nicht.
Bedenken
Für den bibelgläubigen Menschen unserer Zeit hatte die Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten wenig Greifbares anzubieten. Gott wurde irgendwo vor den Urknall gesetzt, zeitlich über ein Dutzend Milliarden Jahre vor heute. Vor allem dem Schöpfungsbericht wurde nahezu jeder Wahrheitsgehalt aberkannt. Deshalb fühlen sich viele Christen angesprochen, wenn irgendwelche Buchtitel ein aus der Bibel vertrautes Wort enthalten oder einen klaren Zusammenhang erkennen lassen, z.B. Schöpfung, Sintflut, Arche, Qumran-Rollen. Das Buch „Erde im Aufruhr“ ist auf den ersten Blick zwar unverdächtig, enthält jedoch einige Elemente, die dem Sintflutbericht nahekommen und auch die Erd- und Menschheitsgeschichte auf einen kürzeren Zeitraum komprimieren; dazu wird erhebliche Kritik an der (damals) gängigen Evolutionsanschauung geäußert.
Aus diesen Gründen wurden Velikovskys Äußerungen zur Geologie auch von einigen Christen positiv aufgenommen, bot sich hier doch eine Alternative zu den manchmal bibelfernen Erkenntnissen der Wissenschaft. Die Debatte um Velikovsky wurde noch zusätzlich angeheizt, indem seine Anhänger ihn als Schutzheiligen Andersdenkender aufbauten. Die Szene um Velikovsky könnte gut auch als Velikovsky-Kult beschrieben werden.
Generell muß man einfach feststellen, daß es eine Reihe von Büchern gibt, die sich irgendwo auf der Schiene zwischen Unsinn und Geschäftssinn bewegen. Oft ist die Christenheit im allgemeinen die Zielgruppe dieser Literatur, egal ob es gegen die „etablierte“ Wissenschaft oder gegen die Kirche (z.B. Drewermann) geht. Der bibeltreue Gläubige ist hier gefordert, diese Schriften im Lichte des Wortes Gottes zu prüfen. Dabei wird sich schnell zeigen, ob die Autoren in Ehrfurcht vor dem Schöpfer und seinem Wort handeln. Im Falle von Velikovsky und anderen wird die Frage nach dem eigentlichen Motiv manche Ungereimtheiten aufdecken. Oft offenbart der Schreibstil ein gehöriges Maß an Egozentrik, manche Bücher scheinen bewußt als Verkaufsschlager geplant. Bei Velikovsky ist kritisch hervorzuheben, daß eine wissenschaftliche Sonderlehre in einen zeitlosen Stand gesetzt wurde; diese Lehre hat Anhänger und, aus Sicht der Anhänger, natürlich auch Gegner. Unverkennbar sind die „religiösen Elemente“ dieser Lehre; darum sollten Christen besser auf Distanz zu Velikovskys Büchern gehen.
Zusammenfassung
Die Einwände gegen „Erde im Aufruhr“ lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Der Arbeitsstil entspricht nicht grundlegenden wissenschaftlichen Standards, man muß ihn sogar als unaufrichtig bezeichnen. Der Leser wird eher verführt, denn informiert. Das Buch blendete schon 1956 in vielen Fragen bekannte wissenschaftliche Daten aus; heute ist es völlig überholt. Die vielen negativen Eindrücke überwiegen die wenigen wertvollen Ansätze bei weitem, so daß von diesem Buch grundsätzlich abzuraten ist. Wer sich mit Themen beschäftigt, die auch von Velikovsky behandelt werden, sollte sich unbedingt an die entsprechende Fachliteratur halten.
Literatur
- Informationen zu Velikosvky finden sich in: „Warum die Erde bebt“ von Walter Sullivan, Fischer Taschenbuch, Band 6804 (1980)
- In den Sagen und Mythen alter Kulturen finden sich Erzählungen über Katastrophen, die vermutlich auf Meteoriteneinschläge hinweisen. Diese Deutung wird in dem empfehlenswerten Buch von A. und E. Tollmann (1993): „Und die Sintflut gab es doch. Vom Mythos zur historischen Wahrheit“ (Droemer Knaur), vertreten.
- Die Hypothese, daß ein gewaltiger Asteroid mit der Erde kollidierte und das Massensterben an der Wende Kreide/Tertiär auslöste, wurde von L.W. Alvarez, W. Alvarez, F. Asaro und H.V. Michel (Extraterrestrial cause for the Cretaceous-Tertiary extinction; Science, 208, S. 1095-1108, 1980) vertreten. Die sog. Impakt-Hypothese hat sich inzwischen durchgesetzt, wobei die Ursachen für das Massensterben noch nicht geklärt sind.
- Mit der ägyptischen Chronologie und Velikovsky beschäftigt sich Th. Schirrmacher (1992): „Das Verhältnis der ägyptischen zur israelischen Chronologie“; factum (Mai) S. 40-46 und (Juni) S. 33-41. Der zweite Teil enthält eine ausführliche Literaturübersicht.