Die Kontroverse um „Evolution und/oder Schöpfung“ wird häufig mit dem „Fall Galilei“ verglichen. In beiden Fällen werde der Fehler begangen (bzw. sei begangen worden), biblische Aussagen als naturkundlich relevant anzusehen. Durch den Fall Galilei habe das Christentum aufgrund dieses Fehlers Schaden genommen. Daher müsse man aus der Auseinandersetzung zwischen Galilei und der Kirche lernen, daß der Glaube schlecht beraten sei, wenn er sich mit einem bestimmten Weltbild vorbehaltlos identifiziere.
Hier soll nicht auf die komplizierten historischen Hintergründe des Falles Galilei eingegangen, sondern nur gezeigt werden, daß sich die beiden Auseinandersetzungen wesentlich unterscheiden. Der Vergleich zwischen der Galilei-Kontroverse und der gegenwärtigen Auseinandersetzung um die Ursprungsfrage ist irreführend.
In der Auseinandersetzung, die Galilei mit der Kirche ausfocht, ging es u. a. darum, ob die Erde astronomischer Mittelpunkt des Weltalls sei. Diese Vorstellung beruht jedoch nicht auf biblischer Lehre (genauso wenig wie die Vorstellung vom „dreistöckigen Weltbild“ oder gar die modernen Vorstellungen des 20. Jahrhunderts von der Bibel ableitbar sind). Die Bibel berichtet von Gottes Handeln in einer Alltagssprache, in einer Ausdrucksweise, die unseren Sinneseindrücken entspricht, die folglich nicht zeitbedingt ist und die wir ja auch heute als wissenschaftlich aufgeklärte Menschen benutzen. Die Bibel beschreibt das reale Handeln Gottes in der Geschichte. Die bei diesen Schilderungen verwendete Ausdrucksweise kann aber nicht für ein räumliches Weltbild ausgewertet werden. Zur Verdeutlichung dieses Sachverhaltes seien einige Beispiele genannt:
Wenn wir heute z. B. sagen „die Sonne geht auf“, kann man daraus nicht auf ein zugrundeliegendes Weltbild schließen, in dem die Erde astronomischer Mittelpunkt unseres Planetensystems ist.
Wenn die Bibel bezeugt, daß Gott Tiere und Pflanzen „nach ihrer Art“ geschaffen hat, dann wird zwar kein wissenschaftlicher Artbegriff verwendet, aber die Realität der Erschaffung typgemäß verschiedener Organismen wird in allgemeinverständlicher Sprache ausgedrückt. Freilich kann die Wissenschaft versuchen, solche geschaffenen Grundtypen zu identifizieren.
Wenn in Josua 10 vom Stillstehen der Sonne berichtet wird, so liegt dem offenbar ein reales Ereignis zugrunde, dessen Vorgang mit Ausdrücken des Sinneseindrucks wiedergegeben wird, wie dies auch heute geschehen würde. (Was hier genau geschehen ist, kann freilich nicht mehr rekonstruiert werden.)
Es läßt sich auch so argumentieren: Wenn Gott durch Evolution geschaffen hätte, hätte dies in der Bibel ohne weiteres in der Alltagssprache ausgedrückt werden können, zumal aus dem Altertum solche Vorstellungen vielfach bekannt sind. Man kann also nicht behaupten, die Vorstellung von fertig geschaffenen Arten sei damals zeitbedingt allgemein vertreten worden.
Andere Aussagen über das Schöpfungshandeln Gottes sind in einer erkennbar poetischen Sprache gegeben (z, B. in den Psalmen). Auch hier kann man aus der benutzten Sprache nicht auf ein Weltbild der Bibel schließen. Man tut das auch nicht bei moderner Poesie. Wenn z. B. der Dichter vom „blauen Band“ des Frühlings spricht, denkt der Leser nicht an ein Stofftuch. Die biblische Geschichte, auch die Urgeschichte Genesis 1-11, ist dagegen nicht in bildhafter Sprache geschrieben.
Da uns die biblischen Offenbarungen also nicht in einer wissenschaftlichen Ausdrucksweise gegeben sind, ist es verfehlt, aus der benutzten Sprache ein „biblisches“ Weltbild ableiten zu wollen, um dieses dann einem „naturwissenschaftlichen“ entgegenzusetzen. Anhand der benutzten Sprache kann man nicht zwingend ein Weltbild ableiten.
Der entscheidende Punkt ist hier vielmehr: Das biblisch bezeugte (und in der Alltagssprache geschilderte) Handeln Gottes in der Geschichte betrifft die historischen Wissenschaftsbezüge, weil von Gott faktisch Geschichte gesetzt wird. Die Geschichte des Handelns Gottes mit der Schöpfung und dem Menschengeschlecht ist nicht weltbildgebunden und damit nicht zu entmythologisieren und nicht modernen Vorstellungen anzugleichen, die das biblische Zeugnis nicht beachten. Gott hat in und mit derselben Welt und in derselben Geschichte gehandelt, die Gegenstand von Fachdisziplinen sind. Daher ist ein bibelfundierter Wissenschaftsbezug im geschichtlichen Sinne sinnvoll und in der heutigen Auseinandersetzung um Glaube und Denken notwendig.
Vergleich zwischen der Auseinandersetzung beim „Fall Galilei“ und der Auseinandersetzung um Schöpfung oder Evolution
Galilei
Evolution / Schöpfung
Problemstellung
Struktur des Sonnensystems. Wie ist das Weltall aufgebaut? Josua 10, 12-15 („Sonne stehe still“) und andere Bibelstellen wie Psalm 19,5b-7 (Sonne als Bräutigam) wurden als Belege für ein geozentrisches Weltall angesehen.
Geschichte der Welt. Wie hat Gott in und mit dieser Welt gehandelt und wie wird er noch handeln? Vgl. Schöpfungsbericht; Mt. 19,4ff, (Ehe); Mt.24,37 – 39 (Sintflut); Röm. 5,12ff. (Adam Christus); 2. Petr. 3,3ff. (Sintflut Wiederkunft Jesu) u. a.
zuständige Wissenschaft (außer der Theologie)
Naturwissenschaft, mit reproduzierbaren (wiederholt beobachtbaren) Phänomenen arbeitende empirische Wissenschaft. Reproduzierbare Belege sind möglich; außerwissenschaftliche Erkenntnisvoraussetzungen spielen eine untergeordnete Rolle; sie stehen hier nicht zur Debatte.
Historische Natur bzw. Geschichtswissenschaft; untersucht nicht-reproduzierbare, einmalige Vor-gänge anhand von Dokumenten und Indizien. Beweise sind nicht möglich, nur Indiziendeutung; außerwissenschaftliche Erkenntnisvoraussetzungen spielen eine entscheidende Rolle; sie stehen hier wesentlich zur Debatte.
Worum geht es der Bibel bei den genannten Stellen?
Es geht um das Handeln Gottes, von welchem in der Alltagssprache (Jos. 10) bzw. in einer poetischen Sprache (Ps. 19 u. a.) berichtet wird; es geht nicht um eine Weltbildfrage. Die der Alltagssprache eventuell zugrundeliegenden Weltbilder sind wissenschaftlich nicht unbedingt relevant. Der Bibel geht es hier nicht um den strittigen Punkt, also der kosmographischen Struktur der Schöpfung.
Es geht um das Handeln Gottes, von welchem auch hier in der Alltagssprache berichtet wird; es geht auch hier nicht um eineWeltbildfrage. Der Bibel geht es hier um den strittigen Punkt.
Ist der strittige Sachverhalt (Struktur des Sonnensystems bzw. Geschichte des Menschen) von der wissenschaftlichen Seite geklärt?
Ja, insofern als astronomische Daten unseres Sonnensystems bisher im heliozentrischen Bezugsrahmen widerspruchsfreieingeordnet werden können. Im übrigen läßt das „kosmologische Prinzip“ derRelativitätstheorie jedes Koordinatensystem gleichberechtigt zu.
Nein, die Geschichte des Menschen ist naturwissenschaftlich nicht beweisbar, es handelt sich um geschichtliche Rekonstruktionen. Der Erkenntnisgegenstand, die Geschichte des Menschen, ist empirisch nicht direkt zugänglich. Es ist nur möglich, unter der außerwissenschaftlichen Vorgabe einer Ursprungsvorstellung die Gegenwartsdaten (Bau der Lebewesen, Fossilien, geologische Systeme, astronomische Daten usw.) zu deuten.