Genesis 1 und 2: Zwei sich ergänzende Schilderungen vom Anfang
Liest man die beiden ersten Kapitel der Bibel in einem Stück durch, fällt auf, daß es sich um recht unterschiedliche Abschnitte handelt. Im ersten Kapitel werden in strenger Abfolge die aufeinander aufbauenden Schöpfungswerke aufgezählt, im zweiten dreht sich fast alles um den Menschen, die Erzählform ist „lockerer“. Die moderne bibelkritische Theologie hat daraus zwei völlig unabhängige Berichte gemacht, die aus ganz unterschiedlichen Quellen stammen. Nach dieser weithin eingebürgerten Quellenscheidungstheorie gehen beide Berichte weder auf Mose noch auf vormosaische Quellen zurück. Vielmehr müsse man sie aus den zeitbedingten Vorstellungen der Abfassungszeit verstehen. Folglich dürften sie keinesfalls als „historisch“ oder gar „naturkundlich“ relevant gedeutet werden. Ein später Redaktor habe beide Berichte aneinandergereiht, ohne die Unterschiede und (vermeintliche) Widersprüchlichkeiten auszugleichen. Diese Sichtweise hat zweifellos manche Argumente und Beobachtungen am Text für sich. Wie weiter unten gezeigt werden soll, beinhalten diese Texte jedoch keineswegs offene Widersprüche. Eine Reihe von scheinbaren Ungereimtheiten tritt im Gegenteil gerade erst dadurch auf, daß die Texte auseinandergerissen werden.
Inhalt
- Genesis 2: Ergänzungen und nähere Erläuterungen zu Genesis 1
- Bewertung von allgemeinen Unterschieden zwischen Gen 1 und Gen 2
Genesis 2: Ergänzungen und nähere Erläuterungen zu Genesis 1
- Es ist ein vielfach wiederkehrendes Stilmittel der biblischen Autoren, nach einem allgemeinen Überblick das Wichtigste herauszugreifen und dazu nähere Informationen zu geben. In diesem Sinne kann man auch das Verhältnis von Genesis 1 und 2 sehen. Nach der Gesamtschau von der Schöpfung wird der Blick auf den Menschen konzentriert, dessen Erschaffung schon im ersten Bericht einenHöhepunkt darstellte.
- Während in Gen 1 die Schöpfungswerke in der Reihenfolge ihrer Entstehungbeschrieben werden, folgt in Gen 2 eine Erklärung ihrer Bedeutung für den Menschen.
- Während es in Gen 1 um die Schöpfung im Überblick geht, handelt Gen 2 nur teilweise von Schöpfung. Es fehlen die Himmelskörper, die Erde und das Meer. Daher ist die oft vorgenommene Bezeichnung „2. Schöpfungsbericht“ unsachgemäß oder zumindest fragwürdig. Man sollte in einem Schöpfungsbericht nicht erwarten, daß solche wesentlichen Teile fehlen. Eine so lückenhafte „Schöpfungserzählung“ wäre in der altorientalischen Literatur ohne Parallele. Eine Reihe von Auslegern lehnt diese Kennzeichnung folgerichtig ab und spricht vom „Paradiesbericht“.
- Gen 1 für sich alleine würde die Existenz des Übels in der Welt nicht erklären. Hier gibt Gen 2 mit der dazugehörenden Schilderung von der Übertretung des Gottesgebots und deren Folgen (Gen 3); unverzichtbare Auskunft.
- Bei Gen 2 und 3 handelt es sich auch um eine Beschreibung der ersten Schritte der Menschen nach ihrer Erschaffung und (bei Gen 2) um eine Überleitung zur Sündenfallerzählung.
Zusammenfassend können wir festhalten, daß beide Berichte für sich alleine ein Torso wären. Zusammen bilden sie eine sinnvolle Ergänzung. Mit dieser Feststellung folgen wir Jesus Christus, der sich in seiner Antwort auf die Frage nach der Ehescheidung gleichermaßen auf Gen 1 und Gen 2 beruft (Mt 19,3-8).
Im folgenden wird auf einige Details näher eingegangen, soweit Überschneidungen der Thematik von Gen 1 und Gen 2 vorliegen. Dadurch soll weiter verdeutlicht werden, wie beide Berichte einander ergänzen. Das in Gen 1 Geoffenbarte wird als Voraussetzung von Gen 2 gesehen. Das heißt: Was in Gen 1 bezeugt wird, muß in Gen 2 nicht unbedingt wiederholt werden.1
Gen 2,4 (Dauer der Schöpfung): Die Wendung „am Tage, da“ ist hier nicht im Sinne eines realen Tages zu verstehen, sondern – wie die meisten Übersetzer es tun – mit „zur Zeit, als…“ oder einfach mit „als…“ wiederzugeben. Begründung: Im Gegensatz zu Gen 1 fehlen hier die Textmerkmale, die dort einen gewöhnlichen Tag zum Ausdruck bringen: Aufzählung der Tage sowie die Wendung „Abend und Morgen“.
Gen 2,5-6 (Feuchtigkeit auf dem Land): Nach Gen 1 war die Erde zuerst mit Wasser umgeben, nach 2,5 fehlte Feuchtigkeit zunächst noch. Daraus folgt: In Gen 2,5ff. wird von der Erde nach der Scheidung von Wasser und Land gesprochen, als die Erdoberfläche aufgrund der Trennung von Wasser und Land trocken war und ohne regelmäßige Bewässerung ausgetrocknet bzw. trocken geblieben wäre. Wird also die Information aus Gen 1 vorausgesetzt, entsteht kein Widerspruch. Vermutlich gab es damals einen anderen Wasserkreislauf, als er heute (nach der Sintflut) verwirklicht ist. Gen 2,6 gibt also eine Bedingung für den Pflanzenwuchs an.
Gen 2,7 (Erschaffung des Menschen): Hier werden Details zur Erschaffung des Menschen mitgeteilt, die im Überblicksbericht Gen 1 fehlen. Ein Widerspruch liegt nicht vor. Es handelt sich um Ergänzungen.
Gen 2,4-8 (Reihenfolge Pflanzen – Mensch): Die Reihenfolge der Schöpfung von Pflanzen und Mensch scheint verschieden zu sein. Hier ist zunächst zu beachten, daß in Gen 2 gar nicht gesagt wird, daß der Mensch vor den Pflanzen erschaffen wurde. Man liest bei den üblichen Übersetzungen hinein, daß beim Erscheinen des ersten Menschen noch keine Vegetation vorhanden gewesen sei. Dieser Eindruck wird z. B. bei der Luther-Übersetzung erweckt:
4 Es war zu der Zeit, da Gott, der Herr, Erde und Himmel machte.
5 Und alle die Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen; denn Gott, der Herr, hatte noch nicht regnen lassen auf Erden, und kein Mensch war da, der das Land bebaute,
6 aber ein Nebel stieg auf von der Erde und feuchtete alles Land.
7 Da machte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.
Eine grundtextnahe Übersetzung erleichtert das richtige Verständnis (verändert nach Külling):
4 Für die Zeit, da Gott, der Herr, Erde und Himmel machte, gilt:
5 Es gab zunächst noch kein Gesträuch des Feldes auf der Erde und noch war kein Kraut des Feldes gesproßt,
[wann, wird nicht gesagt. Aufgrund der Vorgabe von Gen 1 muß es vor dem dritten Tag gewesen sein]
weil Gott, der Herr, noch nicht hatte regnen lassen auf die Erde, und weil es keinen Menschen gab, den Erdboden zu bebauen.
6 Da stieg Feuchtigkeit auf von der Erde und bewässerte die ganze Oberfläche des Erdbodens.
[Nun konnte die Vegetation wachsen]
Und Gott, der Herr, bildete den Menschen, Staub vom Erdboden, und hauchte in seine Nase Atem des Lebens und es wurde der Mensch eine lebende Seele.
[Nun konnte der Mensch den Ackerboden bebauen.]
Es wird deutlich, daß nichts darüber mitgeteilt wird, wann die Pflanzen geschaffen wurden. Mit der Information aus Gen 1 kann gesagt werden, daß sich das in Vers 5 – 6 Geschilderte vor der Erschaffung der Pflanzen am dritten Schöpfungstag abspielte.
In V. 6 wird dann eine Voraussetzung für den Pflanzenwuchs genannt: eine dauerhafte, geregelte Bewässerung (Feuchtigkeit aus der Erde).
In V. 7 wird anschließend (ohne Zeitangabe) die Erschaffung des Menschen geschildert, der die Pflanzen kultivieren soll (vgl. V. 5d und 15: „bebauen“) – der Zusammenhang zielt deutlich auf die Kultivierung der Pflanzen ab, nicht nur auf ihr Wachstum (V. 8: „Garten“). Daß Pflanzen auch ohne menschliches Tun wachsen können, braucht nicht hervorgehoben zu werden.
In Vers 5 bis 7 geht es also um zweierlei: um den ursprünglichen Wasserkreislauf als Bedingung für den Pflanzenbewuchs und um diesen wiederum als Öko-Rahmen für den Menschen, der erschaffen wird. Sonst hätte Gott den Menschen in eine unbelebte Umgebung gesetzt, was eine wenig glaubhafte Auslegung wäre. Daß an dieser Stelle die Tiere noch nicht erwähnt werden, fügt sich gut in den in Gen 1,29f. erwähnten Umstand, daß sie ursprünglich keine Nahrungsgrundlage für den Menschen waren.
Gen 2,18ff. (Erschaffung der Tiere): Auch hier muß bedacht werden, daß die Erschaffung der Tiere gemäß dem Zeugnis von Gen 1 als bekannt vorausgesetzt wird. Dann ist klar, daß in 2,19 nicht die Erschaffung der Tiere geschildert, sondern auf die Tatsache ihrer Existenz verwiesen wird. Daher sollte mit dem Plusquamperfekt übersetzt werden. Das ist auch inhaltlich angemessen:
18 Und Gott der Herr sprach: Der Zustand, daß der Mensch mit sich allein ist, ist nicht gut. Ich werde ihm eine Hilfe schaffen, die ihm entspricht.
19 Und Jahwe-Herr hatte auch alle Tiere des Feldes und alle Vögel aus dem Erdboden geschaffen und brachte sie zum Menschen, um zu sehen, wie er sie nennen würde.
Im Hebräischen gibt es nur zwei Zeitformen. Der Kontext muß Klarheit geben, wie eine sinngerechte Übersetzung vorgenommen werden kann. Der Zusammenhang von Gen 1 bestätigt die obige Übersetzung.2
Bewertung von allgemeinen Unterschieden zwischen Gen 1 und Gen 2
An allgemeinen Unterschieden zwischen beiden Texten sind der unterschiedliche Gebrauch der Gottesnamen („Elohim“ in Gen 1, meistens „Jahwe-Elohim“ in Gen 2) und unterschiedlicher Stil zu nennen. Viele Ausleger haben außerdem den Eindruck, daß verschiedene Schöpfungs- und Gottesvorstellungen zum Ausdruck gebracht würden.
Aufgrund von Unterschieden im Stil und in der Verwendung von Gottesnamen können jedoch nicht zwingend verschiedene Quellen postuliert werden. Der Wechsel von Gottesnamen wird jedoch auch in anderer Literatur beobachtet, ohne daß deshalb verschiedene Quellen vermutet werden. Gleiches gilt für Änderungen im Stil und für Wiederholungen (Pohl). Der bekannte Alttestamentler C. Westermann räumt ein, daß die einzelnen Textbeobachtungen, die für Quellenscheidung sprechen sollen, auch anders erklärt werden können, lediglich in ihrer Gesamtheit seien sie aussagekräftig.
Genesis 1,1-2,4a: ELOHIM
Genesis 2,4b-3,24: JAHWE ELOHIM
Beispielhaft soll dies am Gebrauch des Gottesnamens erläutert werden: Der Wechsel des Gottesnamens ist zuerst im Verwendungszweck zu suchen. Für den Inhalt in Gen 1 ist Elohim der angemessenere Ausdruck, da dieser Name den Allerhöchsten in der Welt als Ganzes am Werk zeigt. Die Verwendung von „Jahwe“ („Ich bin der Ich bin“) zeigt die Gegenwart Gottes dem Menschen gegenüber, weil es in Gen 2 um die Erschaffung des Menschen geht. Die Kombination Jahwe-Elohim in Gen 2 soll deutlich machen, daß Jahwe der Elohim ist, der die Welt erschuf und daß beide Namen denselben bezeichnen. Um gleichzeitig die Heiligkeit Gottes auszudrücken, war es offenbar wünschenswert, den Doppelnamen JahweElohim zu verwenden (McDowell.). Entsprechend der unterschiedlichen Aussageinhalte sollten auch die verschiedenen Gottesvorstellungen interpretiert werden.
Die Unterschiede zwischen Gen 1 und Gen 2 können also durch den jeweils verfolgten Zweck der Textabschnitte verstanden werden.
Anmerkungen
- Selbst wenn Gen 1 und 2 ursprünglich literarisch getrennt gewesen wären, bliebe die Möglichkeit uneingeschränkt erhalten, daß der Schreiber von Gen 2 das Zeugnis von Gen 1 voraussetzt und nicht unabhängig davon schreibt.
- Die Bedeutung des Waw-Konsekutiv-Imperfekts muß nach dem Zusammenhang bestimmt werden (McDowell). Neben Gen 2,19 gibt es eine Reihe weiterer gleichartiger Satzkonstruktionen im AT, in denen der Textzusammenhang ebenfalls eine Wiedergabe durch den Plusquamperfekt fordert. So z. B. Josua 2,22: Nachdem die Kundschafter Israels durch die Hilfe der Hure Rahab aus Jericho entkommen konnten, heißt es dort:
„Sie aber gingen weg und kamen aufs Gebirge und blieben drei Tage dort, bis die zurückgekommen waren, die ihnen nachjagten. Denn sie hatten sie gesucht auf allen Straßen und doch nicht gefunden.“ Eine Übersetzung durch „Und sie suchten sie… und fanden sie nicht“ trifft den Sinn nicht. Die Satzkonstruktion ist hier identisch mit der Konstruktion in Gen 2,18f.
Literatur in Auswahl
- Külling, S. „Die sog. zwei Schöpfungsberichte in 1. Mose 1 und 2.“ In: Bibel und Gemeinde April-Juni 1976, S. 217 – 220.
- McDowell, J. & Stewart, D. Antworten auf skeptische Fragen. Asslar 1991. (dort zahlreiche weitere Literaturangaben)
- Pohl, A. „Der Schöpfungshymnus der Bibel.“ In: Stimmen der Zeit 84 (1958/59), 252-266.
- Westermann, C. Genesis. Biblischer Kommentar zum Alten Testament. Neukirchen-Vluyn 1974.