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Europarat und Kreationismus


Interessierte Kreise scheinen die Auseinandersetzung um Evolutionismus und Kreationismus auf die politische Ebene ziehen zu wollen. Am 26. Juni 2007 sollte in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates über ein Dokument diskutiert und abgestimmt werden, das den sogenannten Kreationismus scharf verurteilt und generell vor Schöpfungsglauben und „Intelligent Design“ im Schulunterricht warnt. Der Europarat ist eine aus 47 Mitgliedsstaaten bestehende europäische Organisation. Die vom Rat verabschiedeten Texte „geben dem Ministerkomitee, in dem alle Außenminister der Mitgliedsstaaten vertreten sind, den nationalen Regierungen, Parlamenten und politischen Parteien sowie anderen Gesellschaftsbereichen ‘wichtige Orientierungshilfen’“ („Gefahren des Kreationismus in der Schule“: Europarat lehnt Abstimmung ab – Link auf die Domain www.christen-haigerseelbach.de funktioniert nicht mehr, Stand 16.7.2019).
Das christliche Medienmagazin „pro“ brachte auf seiner Internetseite eine Zusammenfassung der wichtigsten Inhalte des Dokuments (unter dem oben angegebenen Link online noch verfügbar). Es wurde vom sozialistischen französischen EU-Politiker Guy Lengagne verfasst. In Kurzform: Aus wissenschaftlicher Sicht gebe es „absolut keinen Zweifel“ daran, dass die Evolutionstheorie zentral sei „für unser Verständnis des Universums und des Lebens auf der Erde“. Der Kreationismus dagegen bilde eine Gefahr für Wissenschaft und Demokratie. Daher gelte es nun schnell zu reagieren. Kreationisten würden Wissenschaft als das kostbarste Instrument der Wahrheitsfindung unterminieren. Lengagne geht noch weiter: Ein wachsender Einfluss des Kreationismus führe dazu, dass die Suche nach Heilmitteln für tödliche Krankheiten wie AIDS gebremst werde; Fundamentalismus und Extremismus würden gestärkt; es bestehe eine enge Verbindung zwischen der Ablehnung der Evolutionstheorie, religiösem Extremismus und rechtsgerichteter Politik, und der Kreationismus wolle letztlich einen Gottesstaat errichten.
Einen Tag vor der geplanten Debatte wiesen jedoch 63 der 119 Mitglieder den Bericht an den zuständigen Ausschuss zurück. Lengagne reagierte darauf entsetzt: „Wir erleben hier, wie die Weichen für eine Rückkehr ins Mittelalter gestellt werden, und zu viele Mitglieder dieser Menschenrechts-Versammlung bemerken es nicht“, sagte er (Europarat will Kreationismus nicht verdammen). Aus seiner Sicht verübten die Anhänger des Kreationismus einen „Angriff auf die Menschenwürde“ und er sehe diesen Beschluss nur als Machenschaften von denjenigen an, die mit allen Mitteln die Evolutionstheorie bekämpfen und die Ideen des Kreationismus unterstützen (Meldung aus “pro” – Link auf die Domain www.christen-haigerseelbach.de funktioniert nicht mehr, Stand 16.7.2019). Im Oktober wurde dann eine leicht veränderte Version doch mit 48:25 Stimmen verabschiedet (Ergebnis der Resolution steht online nicht mehr zur Verfügung, Stand 16.7.2019). Die nachfolgende Stellungnahme passt auch zur beschlossenen Version der Resolution.

Stellungnahme der Studiengemeinschaft Wort und Wissen

In den USA existiert zweifellos eine auch politisch interessierte Fraktion des Kreationismus. Teile des amerikanischen Kreationismus wollen theologische Inhalte im Science-Unterricht verankern. Die Studiengemeinschaft Wort und Wissen hat sich bereits in der Vergangenheit von solchen Zielen distanziert (Evolution und Schöpfung in der Schule).

Vor diesem Hintergrund nehmen wir zum oben genannten Dokument im Folgenden Stellung.

1. Eine Ausbreitung des amerikanischen Kreationismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern existiert nicht. Anderslautende Behauptungen wurden unseres Wissens nie durch irgendwelche Studien belegt oder durch Umfragen dokumentiert. Hier wird auf eine ausgesprochen fragwürdige Weise ein angebliches Gefahrenpotential beschworen, um es dann für Forderungen zu instrumentalisieren, die mit dem vorgeblichen Anliegen gar nichts zu tun haben. Offenbar geht es in Wirklichkeit um das Zurückdrängen des christlichen Glaubens aus der schulischen Bildung Europas.

2. Das Dokument setzt de facto Wissenschaft und Evolutionstheorie gleich. Diese Gleichsetzung ist methodisch falsch. Zunächst: „Die Evolutionstheorie“ gibt es nicht, sondern verschiedene Evolutionstheorien. Diese Evolutionstheorien sind wie alle Theorien mit wissenschaftlichem Anspruch vorläufig, revidierbar und ggf. auch ersetzbar. Wäre es nicht so, handelte es sich um weltanschauliche Lehren. Ein Hinterfragen bestimmter Theorien einzelner Fachdisziplinen (hier von Evolutionstheorien) bedeutet selbstverständlich nicht, Wissenschaft an sich in Frage zu stellen! Im Gegenteil: Kritik und Revidierbarkeit ist gerade ein Kennzeichen von Wissenschaft.
Der Schutz der Evolutionsanschauung als Gesamtbild des Werdens der Natur vor wissenschaftlicher Kritik offenbart dagegen gerade deren Weltanschauungscharakter. Es geht also in dieser Auseinandersetzung nicht um den Schutz der Wissenschaft vor Einschränkung, sondern um den Schutz einer mit Absolutheitsanspruch und Intoleranz auftretenden naturalistischen Weltanschauung, die für einen Schöpfer keinen Platz hat.

3. Die sachlich falsche Gleichsetzung von Evolutionstheorie mit Wissenschaft führt erneut zu einer Instrumentalisierung: Wer die Evolutionstheorie als Rahmenanschauung in Frage stellt oder ablehnt, wird zum Wissenschaftsfeind erklärt (und darauf aufbauend sogar zum Demokratiegegner und Befürworter eines Gottesstaates), vor dem gewarnt werden muss und den es zu bekämpfen gilt (und mit denen man genausowenig diskutieren solle und könne wie mit Rechtsradikalen oder Terroristen). Die am 19. 9. 2006 auch in Frankreich ausgestrahlte Arte-Dokumentation „Von Göttern und Designern“ hat diesen unhaltbaren Scheinzusammenhang einem größeren Fernsehpublikum in journalistisch unverantwortlicher Weise nahegebracht („Arte“ schürt Ängste durch Desinformation und Feindbilder). Schon zuvor hat das ZDF in der Fernsehsendung Joachim Bublath im Juni 2004 dieses irreführende Argumentationsschema bemüht (Evolution – die große Lüge?). Die weltanschauliche Voreingenommenheit der beteiligten Journalisten trat in diesen Sendungen deutlich hervor. Die in diesem Papier konstruierten Bedrohungsszenarien laufen auf eine inakzeptable Bedrohung der Meinungsfreiheit in Europa hinaus.

4. Besonders deutlich wird die Strategie des gezielten Aufbaus eines Feindbilds an der absurden Behauptung sichtbar, ohne die Evolutionstheorie gäbe es viele moderne Medikamente nicht und der medizinische Fortschritt werde behindert. Evolution im Sinne der Veränderbarkeit von Lebewesen innerhalb bestimmter Grenzen (Mikroevolution = Optimierung) wird von Schöpfungsvertretern nicht geleugnet. Kritisch gesehen wird nur Makroevolution (= Neukonstruktion). Die Suche nach und die Entwicklung von Arzneistoffen kommt in der Praxis völlig ohne Rückgriff auf Makroevolution aus. Wichtig ist pharmazeutisch ohnehin nicht, wie Lebewesen entstanden, sondern ihr „Ist-Zustand“, also der jetzige Stoffwechsel. Und „Entwicklung“ von Medikamenten bedeutet, dass Wissenschaftlerteams kreativ mit Zielvorgaben kooperieren – das Gegenteil einer ungesteuerten ziellosen Evolution. Dass die Medizin von der Makroevolutionstheorie keinen Nutzen hat, wurde von Medizinern mehrfach diskutiert.1 Die hier zutage tretende wissenschaftliche Unkenntnis der Verfasser des Papiers ist bedauerlich. Völlig inakzeptabel und eines EU Parlamentariers unwürdig ist dagegen die bizarre Kopplung von Evolutionskritik und medizinischem Fortschritt mit dem Ziel, bei nicht informierten Abgeordneten ein Bedrohungsszenario aufzubauen.

5. Die pauschale Behauptung, Kritiker der Evolutionstheorie wollten diese aus dem Biologieunterricht entfernen, ist haltlos. Die Studiengemeinschaft verweist dazu auf ihre bereits am 14. 11. 2005 veröffentliche Stellungnahme (Evolution und Schöpfung in der Schule). Mit anderslautenden Behauptungen wird die Öffentlichkeit massiv in die Irre geführt.

1 W. Lindemann in Studium Integrale Journal 7 (2000), 46-48 (Buchbesprechung „Warum wir krank werden“); H. Ullrich in Studium Integrale Journal 13 (2006), 103; ausführlicher: A. Gammelgaard in Medicine, Health Care and Philosophy 3 (2000), 109-116.