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Wissen und Wissenschaft unter Gott


1. Problemstellung

Die SG Wort und Wissen möchte wissenschaftliche Arbeit tun, aber in bewusster Bindung an die Heilige Schrift. Die Leitfrage lautet also: Wie sollte Wissenschaft aus christlicher Sicht aussehen? Diese Frage soll hier Gegenstand der Reflexion sein.

1.1   Kant

Bei Kant steht Wissen auf zwei Säulen: der sinnlichen Wahrnehmung (“Ästhetik”) und dem Verstand (“Logik”). Diese können sich aber nur auf die sichtbare Welt beziehen.

Traditionell hat man die jenseitige Welt oder das, was die sichtbare Welt umgreift “Metaphysik” genannt: das, was über die Natur hinausgeht. Bei Kant tritt nun die Metaphysik außerhalb des Bereiches der Wissenschaft. Sie ist “spekulative Vernunfterkenntnis, die sich gänzlich über Erfahrungsbelehrung erhebt,” ein Herumtappen mit Begriffen, unter denen man sich nichts vorstellen kann. Solche Begriffe sind etwa “Gott”, “Heil”, “Vorsehung”, “Engel” und andere.

Kant war nun nicht der Meinung, dass es Gott nicht gäbe, im Gegenteil. Aber im Blick auf Gott kann der Mensch nicht wissen, sondern nur glauben. “Ich musste das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.” Hier fallen Wissen und Glauben scharf auseinander. Beides sind ganz unterschiedliche Arten von Wahrnehmung: Jene hat die sichtbare Welt zum Gegenstand und beansprucht das Etikett “Wissenschaft”, dieser hat die unsichtbare Welt zum Gegenstand und kann nur mit dem Etikett “Glauben” (und das heißt: unbestimmtes Wissen, Mutmaßen etc.) beschrieben werden.

1.2   Das moderne materialistische Weltbild

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machte sich ein Weltbild breit, in dem es für die Metaphysik allgemein und für Gott im besonderen keinen Platz mehr gab: das Weltbild des Positivismus. Wirklich ist demzufolge nur das, was vorfindlich ist, was man zählen, messen und wiegen kann, das Positive, das, was vorgegeben ist. Daher der Begriff Positivismus. “Geglaubt” wird nur das, was man sehen kann. Dieses Denken stand in enger Beziehung zu dem Boom der Wissenschaft und der Technik der damaligen Zeit. Hier ist kein Platz für den Glauben an Gott.

Mit diesem Denken verbindet sich der Materialismus: Einzige Wirklichkeit ist die Materie. Auf diese wird die Wissenschaft bezogen. Sie ist gewissermaßen die Herrin, die im Bereich der materiellen Welt, der empirischen Wahrnehmung, bestimmen soll, was richtig oder falsch ist. Sie tritt mit einem geradezu universalen Geltungsanspruch auf.

Wenn wir ein Problem wahrnehmen – etwa das im Jahre 2000 aktuelle BSE-Problem, dann erwarten wir von der Wissenschaft, dass sie die nötigen Erkenntnisse liefert, das Problem zu lösen. Das ist an sich vollauf korrekt. Wir gäben nichts auf das illusorische Geschwafel eines Politikers, der meint, man könne durch ökologischen Landbau das BSE-Problem lösen. Exakte wissenschaftliche Erkenntnisse sind uns lieber.

Das eigentliche Problem liegt im Anspruch der positivistischen Wissenschaft, alle nötigen Kategorien zur Weltdeutung zu besitzen. In ihrem Weltbild ist kein Platz für Gott. Sie kennt als einzige Wirklichkeit nur die sichtbare. Sie hat den Trumpf, dass sie ihre Sätze (mit Ausnahme ihrer Grundannahmen) empirisch beweisen kann, und kann frei behaupten, dass die Aussage, dass Gott der Schöpfer der Welt sei, keine wissenschaftliche Aussage sei, weil sie sich weder beweisen noch widerlegen lasse.

Eine Hauptfront verläuft heute dort, wo es darum geht, das Phänomen Geist oder Bewußtsein einzuordnen. Was ist Geist? Gibt es ihn? Ist er eine eigene, von der Materie unabhängige Größe? Kommt er etwa von Gott? Oder ist er nur ein Produkt, ein “Epiphänomen” der Materie? Hat er sich aus der Materie heraus entwickelt?

Dies ist die alte positivistische Frage, ob man nur an das glauben kann, was man sieht, ja ob es nur das gibt, was man sehen kann – oder ob es doch noch eine unsichtbare Welt gibt, eine Welt des Geistes oder eine Welt Gottes. Gegenwärtig wird mit harten Bandagen dagegen gekämpft, Geist als eigenständige Wirklichkeit anzusehen. Geist ist nur ein Produkt der Materie, und deshalb ist die gegenwärtige Weltanschauung materialistisch.

Dieser Sachverhalt ist dafür verantwortlich, dass wir als Christen die Wissenschaft als Bedrohung empfinden. Wir empfinden die Bedrohung, dem irrtumsfähigen und irrenden menschlichen Denken und Forschen ausgeliefert zu sein. Denn indem der Mensch die Dimension Gottes nicht mehr akzeptiert, bleibt ihm nur noch die materialistische Weltsicht, und diese macht den Menschen zu einem instinktgeleiteten Tier, das sich mit der Wissenschaft legitimiert.

1.3   Christliche Wissenschaftstheorie und die Postmoderne

Von der Aufklärung her steht die Vernunft in Konkurrenz zur Heiligen Schrift. Sehr nachdrücklich hat Kant Wissenschaft von der Vernunft her begründet und gerechtfertigt. Die Vernunft war bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein Massstab für wahr oder falsch. Doch die Nachkriegszeit, die sog. Postmoderne, hat die Vernunft preisgegeben. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, die ich hier nicht darstellen kann. Ausführliche Angaben zu dieser Entwicklung finden sich in den kleinen, aber feinen Büchlein von Francis A. Schaeffer, Preisgabe der Vernunft. Diese Entwicklung hatte auch Folgen für das Verständnis von Wissenschaft.

Die Wissenschaftstheorie ist in den letzten Jahren zu einer bloß formal-methodischen Disziplin verkommen. Sie sagt nur noch, wie man in den einzelnen Fachdisziplinen Wissenschaft betreiben kann. Sie stellt kein allgemeines oder gar allgemein gültiges Konzept von Wissenschaft vor. So haben wir als christliche Studiengemeinschaft eigentlich keinen Gegner, mit dem wir uns auseinandersetzen müssten. Wir können im Rahmen des pluralistischen Denkens unser Konzept getrost entwickeln und darstellen. Aber das macht die Aufgabe nicht leichter, denn wenn wir Wissenschaft von Gott her begründen und rechtfertigen wollen, dann tun wir etwas, was nach der postmodernen “Wissenschaftstheorie” eigentlich gar nicht möglich ist. Wie diskutieren Dinge, über die man nicht diskutieren kann, weil das postmoderne Denken keine Begründung von Wahrheit mehr kennt.

Im Licht postmoderner Wissenschaftstheorie ist unser Ansinnen repressiv und inhuman, weil wir mit der Berufung auf eine Autorität – die der Heiligen Schrift – repressiv werden. Wir wollen, so wird uns gesagt, etwas tun, was andere zwingen soll, uns anzuschließen. Helmut Spinner, Pluralismus als Erkenntnismodell (Frankfurt: Suhrkamp, 1974) führt aus, dass ein wie auch immer vertretener Wahrheitsanspruch autoritär sei.

“Damit wird dem Dogmatismus Tür und Tor geöffnet und gleichzeitig ein anscheinend rationales Alibi für letztlich irrational-autoritäres Denken geliefert.” (S. 40).

Die Grundannahme des Pluralismus ist: “Es gibt kein Fundament der Erkenntnis.” (ebd., S. 48). Jeder Anspruch auf Wahrheit und Gültigkeit steht unter Ideologieverdacht. Im Rahmen dieses Denkens gibt es keine Offenbarung. Alle jene Schriften, die den Anspruch erheben, Offenbarung zu sein, sind letztendlich Produkte des allgemein-menschlichen religiösen Bewußtseins.

Das ist die eigentliche Problematik, vor der wir stehen. Hier wird also nicht mehr auf der Sachebene diskutiert, ob es Wahrheit gibt oder nicht, sondern es wird als Dogma verkündet, dass sie es nicht gibt. Es bleibt der Vorwurf auf uns lasten, autoritär zu sein. Dieser Vorwurf betrifft die Beziehungsebene, den Umgang miteinander oder auch das Zusammenleben im Rahmen der Gesellschaft.

Nichtsdestoweniger erlaube ich mir, von der Heiligen Schrift her zu argumentieren, weil sich nur so sinnvolle Wissenschaft ergibt.

2. Wissen unter Gott

2.1   Gottes Offenbarung als Vorgabe für menschliches Erkennen

2.1.1   Die Bibel als Gottes Wort

Eine der grundlegenden Denkvoraussetzungen des christlichen Glaubens ist, dass Gott sich offenbart hat. Das müsste freilich im einzelnen gezeigt werden. Dazu aber ist hier nicht der Raum. Diese Voraussetzung wird nicht vom Menschen gemacht oder konstruiert, sondern ist eine von Gott selbst gesetzte Vorgabe. Sie ist evident aus der Bibel heraus, denn die Bibel tritt mit dem Anspruch auf, Gottes Wort zu sein. Sie beansprucht damit zugleich Normativität für alles was sie sagt, und zwar um der Gottheit und Autorität Gottes willen.

Indem ich dies sage, mache ich formal gesehen eine religiöse Aussage. Ich stelle eine dogmatische Behauptung auf. Sie ergibt sich aus der Bibel selbst. Doch die biblische Aussage wird in unserer Kultur als religiöse Aussage wahrgenommen. Religiöse Aussagen sind ihrem Wesen nach nicht beweisbar. Sie werden im heutigen Denken als eine menschliche Projektion angesehen, als etwas, was ein Mensch im Rahmen seines religiösen Empfindens für wahr hält, was aber an sich nicht “wahr” sein kann in dem Sinne, wie eine empirische Tatsache wahr ist. Doch genau das ist nicht unsere Sicht. Wenn ich die Bibel als Gottes Wort ansehe, dann ist das nicht meine religiöse Projektion oder die ihrer Autoren, sondern dann ist dies eine Aussage, mit der Wirklichkeit bestimmt wird: die Bibel ist Gottes Wort unabhängig davon, ob ich oder die Kirche es glaubt oder nicht.

Damit sage ich zugleich: Es ist auch mehr als eine Voraussetzung. Denn Offenbarung, ist keine Voraussetzung, die wir machen. Wir “setzen” nichts, sondern akzeptieren den Anspruch der Bibel, Gottes autoritatives Wort zu sein; wir akzeptieren, was Gott selbst gegeben hat. Zwar ist unsere Aussage, die Bibel sei Gottes Wort, formal gesehen eine Voraussetzung. Aber wir machen sie nicht aus uns heraus, sondern weil wir sie als solche vorfinden. Darin besteht ein Unterschied zu den Denkvoraussetzungen, die jeder hat.

Offenbarung begründet Wahrheit und Gewissheit. Darin liegt ihre Leistung. In der wissenschaftstheoretischen Diskussion wird dieser Sachverhalt formal zwar anerkannt, aber das Recht dazu selbstverständlich bestritten, weil der moderne Mensch mit dem Konzept “Offenbarung” nichts anfangen kann und Wahrheit als repressiv empfindet.

2.1.1.1   Menschliches Erkennen unter Gott

Ebenso grundlegend ist nun die Frage, wie die menschliche Erkenntnis in Relation zur Bibel steht. Was kann der Mensch mit seinem Erkenntnisvermögen leisten? Es geht bei dieser Frage um die Zuordnung von Schöpfer und Geschöpf, von Gott und Mensch in grundsätzlicher Form. Die Frage weist darüber hinaus sowohl in die Richtung, wieder Mensch erkennt als auch in die Richtung, was er – vor Gott, als Teil der Schöpfung – vermag. Diese Fragen sind theologischer Natur und können auch nur theologisch beantwortet werden, obwohl man auch aus rein menschlicher Sicht argumentieren könnte. (Etwa: Indem der Mensch Gott denkt, denkt er sich in Beziehung zu einer ihm übergeordneten Größe. Dieses Denken könnte man phänomenologisch beschreiben.)

Ich behandle zunächst die Frage nach dem, was der Mensch zu leisten vermag. Hier haben sich im Lauf der Geistesgeschichte – besonders auch der Theologiegeschichte – unterschiedliche Antworten ergeben:

2.1.1.2   Modell 1: Die Entsprechung (Analogie)

Das Denken des Menschen ist eine geschöpfliche Gabe. Es ist dem Menschen eingestiftet und qua Schöpfung immer schon auf Gott bezogen Der Mensch hat zwar Freiheit, aber diese ist immer auf Gott hin und kommt nur dann zu ihrer rechten Entfaltung, wenn sie auf Gott gerichtet wird. – Dieses Modell ist im Grundsatz das katholische. Die Vernunft als Gabe Gottes ist ohne weiteres in der Lage, Gott und Welt zusammen zu schauen. Hier haben wir ein einheitliches Erkenntnisfeld. Es gibt keine ontologische Antithese zwischen Gott und Mensch, sondern weil der Mensch analog zu Gott ist, kann er jederzeit Gott erkennen, wenn er es will. Das Zueinander von Vernunft und Offenbarung wird sehr schön deutlich in Thomas von Aquinos Sicht über die Gotteserkenntnis: Dass ein Gott ist, kann der Mensch anhand der Schöpfung erkennen, dass er aber dreieinig ist, muss ihm in der Offenbarung gesagt werden. Die Offenbarung ergänzt die natürliche Erkenntnis.

2.1.1.3   Modell 2: Die Antithese

Das Denken des Menschen ist so sündig oder so andersartig, dass es mit Gott und mit Gottes Geist nicht kompatibel ist. Dieses Modell nimmt eine starke Antithese von Gott und Mensch von Vernunft und Offenbarung wahr. Diese Antithese kann verschiedene Gestalt annehmen:

 

  1. Die Ausschaltung der Vernunft
    Diese Ansicht hat immer wieder Vertreter gefunden: Schon Tertullian sagte im zweiten Jahrhundert nach Christus, er glaube, weil es widersinnig sei. Das Widersinnige hielt er für das Höhere und Gott Angemessene. Ebenso sah Kierkegaard den christlichen Glauben im Sprung als richtig an. Auch Karl Barth (+1968) hat sich immer wieder kritisch über die Herrschaft der Vernunft geäußert und deshalb die dialektische, die nicht einlinige, sondern widersprüchliche Aussage über Gott und den Menschen gesucht und gefordert. Das Resultat ist dann eine Verneinung der Vernunft zugunsten der Mystik des Betroffenseins oder Gefühls.
  2. Das Auseinanderfallen des Erkenntnisfeldes
    Diesen Weg haben zum Beispiel die franziskanischen Theologen des Mittelalters gewählt. Wilhelm von Ockham, der 1350 in München im Exil auf der Flucht vor der Inquisition gestorben ist, sah das Denken nicht mehr als ein Erfassen von Wirklichkeit an. Denken und Begriffe bilden war für ihn ein bloßes Abstrahieren von der empirischen Wirklichkeit, und die Begriffe nur Etiketten, die der Mensch den Dingen aufklebte. Indem man Gott denkt, erfasst man nicht sein Wesen; man kann sich nicht auf dem Weg der Spekulation zu Gott aufschwingen. Von Gott kann man nur etwas wissen aus der Offenbarung. Vernunft und Offenbarung aber sind zweierlei. So zerfällt das Erkenntnisfeld. Eine Erkenntnisweise ist für die Welt, in der Empirie und Logik herrschen, und eine für die Theologie oder Gott, wo aus der Sicht der natürlichen Vernunft Widersinn oder Mystik herrschen. Das große Problem ist also, dass es dann eine doppelte Wahrheit gibt: eine niedere, wissenschaftliche, aus der Weltbeobachtung kommende, und eine höhere, geistliche. Beide können einander widersprechen und eine Brücke zwischen beiden ist nicht zu finden. Das aus der Weltbeobachtung kommende Wissen ist nicht von Gott normiert, sondern von der natürlichen Erkenntnisfähigkeit.
    Diese Sicht ist hochmodern. Sie findet sich in der modernen Theologie durchgängig. Aber sie findet sich z.B. auch bei dem evangelikalen Wissenschaftler W. Ouweneel. In seiner Wissenschaftstheorie Wijs met de wetenschap grenzt er sich von einem fundamentalistischen Biblioszientismus ab, der die Bibel der Sache nach wie von wissenschaftlichen Fakten reden lässt (pp. 17-19; 86f.) Obwohl O. die Bibel als Paradigma akzeptiert und Wissenschaft zur Ehre Gottes betreiben möchte, ist der wissenschaftliche Umgang mit ihr einschließlich der der wissenschaftlichen Theologie eine inerte, das geistliche Leben, die Erkenntnis Gottes etc. nicht betreffende Sache. Wissenschaft ist für ihn die distanzierte Untersuchung eines Sachverhaltes, Glaube aber die lebendige Beziehung zu Christus jenseits aller methodischen Erkenntnis. Ouweneel meint ferner, dass wissenschaftliche Rede zu unterscheiden sei von “pistischer” Rede. Die Bibel rede eine pistische Sprache, nicht eine wissenschaftliche. Damit haben wir zwei Arten von Rede. Eine distanziert-wissenschaftliche und eine betroffen-gläubige. Die Erkenntnis ist zweigeteilt. Die von unserem Ehrenvorsitzenden immer wieder reklamierte intellektuelle Diakonie, die mit wissenschaftlicher Arbeit Dinge aussagt, die für den Glauben von Bedeutung sind, ist dann nicht mehr möglich.

 

2.1.1.4   Modell 3: Die Komplexität

Dieses Modell trägt der Komplexität der menschlichen Existenz Rechnung. Es sieht, dass der Mensch Geschöpf Gottes ist, aber es sieht auch, dass er Sünder ist. Von daher kann erwartet werden, dass die natürliche Vernunft im Gegensatz zu Modell 2 einiges erkennen und leisten kann, aber dass sie im Gegensatz zu Modell 1 nicht bruchlos zur Offenbarung in Beziehung gesetzt werden kann. Vor allem hier kommen mehrere Aussagen oder Aussagelinien der Bibel zur Geltung:

  1. Aussagen, die die Freiheit des Menschen zur Welt hin verdeutlichen
    Ich erwähne hier das Kulturmandat: Macht euch die Erde untertan!, das von der Schöpfung her in Geltung ist. Hier macht Gott keine weiteren Verfügungen und überlässt es dem Menschen, in welcher Weise er sich die Erde untertan macht.
    Das Buch der Sprüche zeigt vielfältig auf, wie der Mensch sinnvollerweise mit der Welt umgeht. Allerdings spricht es davon unter der Perspektive der Weisheit, also viel stärker in ethischer Perspektive, nicht unter der Perspektive des auf den Intellekt beschränkten Wissens oder der Welterkenntnis. Das Wissen oder die Welterkenntnis ergeben sich aus der selbstverständlichen Begegnung mit der Welt, aus dem Erwerb von Einsichten in die Schöpfung aufgrund des täglichen Umgangs mit ihr. Die Bibel hält es für selbstverständlich, das Abraham seinem Besuch ein Tier schlachten kann, dass Abigail David mit Nahrung versorgt, dass Paulus auf einem Schiff fahren und die Seeleute Hilfsmittel zur Navigation haben, dass Häuser gebaut werden und vieles andere mehr. Indem die Bibel hierzu keine Angaben macht, signalisiert sie, dass der Mensch hier nicht gehindert oder gebunden ist. Einzig Gottes Gebote, also wieder die ethische Dimension, stellen Leitlinien dar im Blick auf seinen Umgang mit der Schöpfung.
    Hier ist der Freiraum für menschliche Wissenschaft. Gott schreibt dabei dem Menschen nicht vor, was er wie zu untersuchen hat. Der Mensch kann hier nach Bedarf, nach Interesse oder vielleicht auch aus Opportunismus forschen, Erkenntnisse gewinnen, sie für sein Leben, seine Bewältigung der Welt fruchtbar machen. Darum schätze ich auch die Entwicklung der modernen Wissenschaft in der Neuzeit durchaus positiv ein. Der Mensch ist durch die Einsichten der Reformation zu der Überzeugung gekommen, dass ein vernünftiger Gott die Welt nach vernünftigen und damit erkennbaren Gesetzen geschaffen hat. Das hat ihn motiviert, die Welt nach solchen Gesetzmäßigkeiten zu erforschen. Dieser Glauben leitete auch solche Wissenschaftler, die nicht an Jesus Christus als ihren Erlöser glaubten.
  2. Aussagen, die die Unfähigkeit des natürlichen Menschen zur Gotteserkenntnis verdeutlichen
    So sehr die Bibel den Menschen in der Zuwendung zur Welt in der Freiheit sieht, so sehr verdeutlicht sie zugleich: Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geist Gottes und es ist ihm eine Torheit (1Kor 2,14). Der Mensch kann an den Werken Gottes zwar Gottes Macht und Gottheit erkennen (Röm 1,20), aber der hält diese Erkenntnis (die Wahrheit) in Ungerechtigkeit gefangen (Röm 1,18). Er hat nicht die Freiheit, ihr zu folgen, sondern ist gebunden an den Unglauben und Götzendienst.
    Die Beziehung des Menschen zu Gott ist zerbrochen, und zwar so sehr, dass der Mensch sich mit seinen geschöpflichen Fähigkeiten nicht auf Gott zu bewegen kann. Er ist gefangen, und zwar auch in seiner Erkenntnis. Das heißt, dass er auch im Blick auf Wahrheit irrt, dass er Erkenntnis nicht begründen kann und darin zwangsläufig irrt. Seine Situation ist also verzweifelt: Er braucht Begründung von Erkenntnis durch Wahrheit, um seiner Erkenntnis sicher sein zu können, aber er hat sie nicht. Und wenn er sie hat, dann besitzt er nicht die Fähigkeit, sich zu ihr zu stellen. Er ist in seiner Sünde darauf programmiert, der Wahrheit – Gott – zu widerstehen. Das gilt auch, obwohl er zur See fahren oder zum Mond fliegen kann.

Folgerung: Das heißt nun, dass weder Modell 1 noch Modell 2 sich wirklich auf die Bibel berufen können. Die biblische Aussage ist komplexer und wird erst in Modell 3 ganz zur Geltung gebracht. Wenn ich angesichts dessen von Komplexität spreche, dann meine ich nicht Komplementarität im hegelschen Sinne, also im Sinne einer Dialektik, eines “mal so, mal anders”. Ich meine damit, dass wir die jeweilige Orientierung immer vor Augen haben müssen, je nachdem, in welche Richtung wir sehen. Das ist realistisch und auch praktikabel.

2.1.2   Die Bibel als Paradigma

Wer in der Theologiegeschichte zu Hause ist, erkennt, dass ich mich in der Nähe von Luthers Lehre von den zwei Regimenten bewege. Für den Menschen und sein Erkennen heißt dies, dass er in dieser doppelten Orientierung zu stehen hat: Hörig auf Gott, frei zur Welt.

Welches sind die Quellen des Wissens aus christlicher Sicht?

  1. Der Mensch soll auf Gott hören, um die Welt richtig zu verstehen. Ich mache darauf aufmerksam, dass ich an dieser Stelle vom Menschen spreche, der jeweils eine Einheit ist. Er hat zwar diese doppelte Orientierung, aber er ist derjenige, der erkennt, und die Erkenntnis ist in seinem Herzen. Sie kann ihrem Wesen nach nicht von zweierlei Art oder auf zwei verschiedenen Ebenen sein. Die Einheit seines Bewusstseins verbietet dies.
    Hören auf Gott heißt nun, dass die Bibel das Paradigma ist, dem entsprechend wir wissenschaftliche Arbeit tun. Ein Paradigma ist ein System von Denkvoraussetzungen und Maßgaben, ein Rahmen, innerhalb dessen wir uns bewegen. So ist die Aussage von der Schöpfung für uns von paradigmatischer Bedeutung. Aber auch die Aussagen von der Gottesbildlichkeit des Menschen und die vom Sündenfall und seinen Folgen für den Menschen in seiner Beziehung zur Welt und zu Gott haben paradigmatischen Charakter. Nicht weniger sollte auch die Aussage von der Erlösung der Welt und der künftigen neuen Schöpfung die ihr gebührenden paradigmatische Bedeutung haben. Das christliche Paradigma ist im übrigen gekennzeichnet von einem linearen Verständnis der Geschichte.
    Die Bibel ist aber nur formal gesehen Paradigma. Paradigmen an sich sind üblicherweise von Menschen gemacht, sie sind austauschbar; sie unterliegen der Kritik, können akzeptiert oder verworfen werden. Sie sind relativ wie alles andere in der Welt auch. Die Bibel aber ist Gottes Wort und als solches ein Absolutum. Wir bekennen ihre Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit. Insofern ist sie mehr als ein Paradigma. Aber formal gesehen hat sie doch die Funktion eines Paradigmas. Die Bibel steht gewissermaßen als Kristallisationspunkt der Erkenntnis da. Sie bietet Grunddaten der Erkenntnis. Diese beziehen sich auf die Herkunft und die Zukunft der Welt und des Menschen. Sie macht Aussagen über die Urgeschichte und über die letzten Dinge. Aber dann widmet sie sich der speziellen Offenbarung in Israel, die in Christus ihren Höhepunkt findet. Hierin verfolgt sie die spezifische Absicht, den Menschen ins Heil zu stellen, also ihm am ewigen Leben in Christus teilzugeben. In allen diesen Dingen ist sie sehr spezifisch und von breiter und bindender Autorität.
  2. Im übrigen aber lässt sie viel Freiheit, die Welt zu erforschen. Sie kann in vielen Fällen nicht als direkte Norm für unsere Erkenntnis herangezogen werden. So bleibt es den Naturwissenschaften überlassen, das Phänomen der Photosynthese oder der optischen Aktivität oder des genetischen Codes zu erkennen und zu interpretieren. Die Interpretation muss zwar mit dem Kristallisationspunkt (der biblischen Botschaft) in sinnvoller Übereinstimmung sein, aber es besteht die Möglichkeit, dass mehrere Interpretationen eines Phänomens möglich sind und die Bibel nicht festlegt, welche die richtige ist.

Indem wir Offenbarung und Vernunft in dieser Weise koppeln, signalisieren wir, dass es für uns keine zwei getrennten Erkenntnisfelder gibt, sondern eines. Dies entspricht formal dem Modell 1. Wir wollen keine doppelte Wahrheit. Wir wollen zum Beispiel nicht, dass die Bibel ein Katastrophenmodell und die Geologie ein Entwicklungsmodell lehrt. Allerdings sehen wir Vernunft und Glauben nicht solch bruchloser Kontinuität zueinander wie Modell 1, denn Tatsache ist auch, dass wir Beobachtungen machen oder logische Schlußfolgerungen ziehen, die scheinbar (und wir können diesen Schein nicht wegleugnen) im Widerspruch zur Bibel stehen.

2.1.3   Die natürliche Vernunft und Gottes Gabe der Erkenntnis

Ein weiteres Problem, auf das ich hier hinweisen möchte, ist das rechte Verstehen der Bibel. Es gehört formal gesehen in den Bereich der Hermeneutik als der Wissenschaft vom Verstehen und Auslegen von Texten. Die Frage lautet: Wenn die Bibel als Wort Gottes das Paradigma für die Wissenschaft darstellt, aber der natürliche Mensch nichts von ihr versteht, wie kann dann eine christliche Wissenschaft überhaupt begründet werden? Kann der Mensch einfach so die Bibel zum Paradigma seiner Wissenschaft machen? Kann er aus sich heraus entscheiden, die Bibel zum Axiom seines Denkens zu machen?

Er kann es nicht, und wenn er es tut, dann tut er es aus seinem ungläubigen Herzen heraus. Er macht sich selbst bibeltreu, so wie die Pharisäer und Schriftgelehrten bibeltreu waren, aber er versteht die Schrift doch nicht richtig. Man “kann” also die Autorität der Schrift bekennen, aber sie auf dem Wege der Hermeneutik doch wieder relativieren. Rechte Erkenntnis hingegen kann nur begründet werden dadurch, dass Gott es nach seinem gnädigen Rat gibt, dass Menschen die Bibel verstehen, dass sie Gottes Wege in seiner Offenbarung erkennen und seinem Wort glauben. Durch das Evangelium kommen sie zu rechter Erkenntnis. Gott erleuchtet ihre Herzen. Sie werden dadurch Licht der Welt, sie werden Glieder der Gemeinde und diese ist bekanntlich “Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit”.

Das heißt nicht, dass nur die Christen rechte Wissenschaft betreiben können. Aber es heißt doch dies, dass sie aus der Sicht Gottes rechte Erkenntnis haben, weil sie sein Wort haben. Als Licht der Welt haben sie einen Einfluss auf die Welt. Andere Menschen kommen in dieses Licht, ohne selbst Licht zu sein. Nehmen wir als Beispiel den Mathematiklehrer und Kirchenchristen von 1880. Er kannte Luthers Katechismus noch auswendig und glaubte nicht an die Evolution, sondern an Gott den Schöpfer. Als Kulturprotestant hatte er wohl Schwierigkeiten mit dem Sühnopfer Christi und der Rechtfertigung durch den Glauben – kurz, er stand nicht im Heilsglauben. Aber weil er der Bibel mehr glaubte als der Evolutionstheorie, konnte er in der Natur das Werk des Schöpfers sehen und seine Beobachtungen in diesem Sinne interpretieren. Er war nicht Christ, aber stand im Licht der christlichen Erkenntnis.

Dieses Licht ist in unserer Kultur praktisch erloschen. Unsere Kultur ist säkularisiert. Christen und christliche Positionen haben nur noch indirekt Einfluss auf die Gesellschaft im allgemeinen und die Wissenschaft im besonderen. Der christliche Glaube ist in die Privatsphäre abgedrängt. Dem entsprechen die eingangs geschilderten Positionen des Pluralismus, denen zufolge es keine Wahrheit – kein Licht, um bei dem Beispiel zu bleiben – geben außer dem Licht des menschlichen Verstandes. Wenn Wort und Wissen einen Sinn haben will, dann den, dass es dieses Licht wieder entzündet und sich nicht schämt, zu sagen, woher das Licht kommt: aus Gottes Offenbarung.

2.2   Bibel und Wissenschaft

2.2.1   Logik und Empirie

Die Leitfrage lautet nun: Was leisten die Empirie und menschliche Logik im Licht der biblischen Offenbarung?

Schöpfungstheologisch gesehen gehören Logik und Empirie, Denken und sinnliche Wahrnehmung, zum geschöpflicherweise vorhandenen Erkenntnisvermögen. Die Bibel stellt beide nicht einander gegenüber, sondern setzt es als gegeben voraus, dass der Mensch sowohl sieht und hört als auch denkt und glaubt. Das Zueinander von Sehen und Denken wird in Römer 1 besonders deutlich: Menschen sehen die Schöpfung und sollen in ihrem Herzen schließen, dass ein machtvoller Gott Himmel und Erde gemacht hat, aber sie wenden ihre Gedanken dem Sichtbaren zu. Es ist daher nicht statthaft, die eine gegen die andere Erkenntnisweise auszuspielen und entweder die Empirie oder die Ratio zum Prinzip des Erkennens zu machen. Das bloße Denken wäre reine Projektion und Spekulation ohne jeden Wirklichkeitsbezug, wenn es nicht gespeist würde von konkreten Sinneseindrücken. Die bloßen Sinneseindrücke wären so ähnlich wie Fernsehen ohne Sprache, wie Bilder ohne Wort, ohne Denken; man sieht etwas, aber versteht es nicht. Daher sollte man im Blick auf Wissen und Wissenschaft tun, was man von Kindesbeinen an zu tun gewohnt ist, nämlich sehen und denken zugleich.

Aus schöpfungstheologischen Gründen bin ich auch der Meinung, dass wir mit unserem Erkenntnisapparat die Gegenstände der Erkenntnis wirklich so wahrnehmen, wie sie sind. Die Wahrnehmung ist zwar ausschnitthaft und bisweilen unklar, aber sie ist so, wie sie für den sachgemäßen Umgang mit ihr und für die Kommunikation untereinander dienlich ist. Ich antworte mit dieser Behauptung auf das von Kant aufgeworfene und vom modernen Konstruktivismus vertiefte Problem, dass wir nie den Gegenstand an sich, sondern den Gegenstand nur so, wie er uns erscheint, wahrnehmen. Die Bibel antwortet nicht explizit auf diese Problematik. Aber sie lässt erkennen, dass eine Sache, die vom Menschen wahrgenommen worden ist, auch von Gott so wahrgenommen wird. Immerhin beauftragt Gott Adam, die Tiere zu benennen, und verfügt, dass sie so, wie Adam sie benennt, auch heißen sollen. Gott stellt sich mit seiner Erkenntnis auf dieselbe Stufe wie Adam. Also: Empirie – ja bitte, so viel wie möglich. Aber kein Empirismus. Rationalität und Logik – ja bitte, so viel wie möglich, aber kein Rationalismus.

Damit ist auch gesagt, dass sowohl unsere empirischen Methoden als auch die Theorien und die rationale Kritik an Theorien berechtigt sind. Wissenschaft kann nicht mit Popper auf die Falsifikation beschränkt werden, denn Wissenschaft ist auch Empirie, gewisse sinnliche Wahrnehmung. Umgekehrt kann Wissenschaft nicht auf empirische Wahrnehmung und Protokollsätze beschränkt werden, denn Wissenschaft ist auch der Aufbau von Theorien. Wogegen ich mich also wehre ist die nutzlose einseitige Anwendung eines Prinzips auf Kosten des anderen.

2.2.2   Die Geltung der Logik

Problematischer ist die Frage nach den Denkgesetzen generell. Nimmt man die drei bzw. vier Grundsätze, den Identitätssatz, den Satz vom Widerspruch, den Satz vom ausgeschlossenen Dritten und den Satz vom zureichenden Grund, dann stellen wir fest: sie helfen uns sehr, sie gelten, wir operieren laufend mit ihnen, sie dienen der Wahrheitsfindung, sogar vor Gericht. Wir können sie als vom Schöpfer eingestiftete Denkkategorien ansehen. Sie sind für sich genommen aber nicht geeignet, das Ganze der Wirklichkeit zu erfassen. Sie müssen ergänzt werden durch die empirische Wahrnehmung. Das ist die eine Grenze.

Die andere Grenze ergibt sich aus der Frage, wie weit die Kategorien der Logik wirklich gelten. Hier muss uns die Einsicht, dass sie Funktionen des gefallenen Menschen sind, zu denken geben. Wir dürfen sie daher nicht verabsolutieren. Dies zeigt auch die Definition des Lichts sowohl als Welle als auch als Korpuskel. Sie ist im Licht der Logik problematisch. Die Logik scheint hier nicht zu gelten. Oder: Wie steht die Logik in der Relativitätstheorie? Man möchte ferner die wohl müßige Frage stellen, ob die Logik auch in einem schwarzen Loch gilt. Und wie steht es mit ihr in der Theologie? Wir stellen schon in der Lehre von der Dreieinigkeit Gottes einen offenen Widerspruch zur Logik fest. Hier ergibt sich also die schwierige Aufgabe, die Geltung der Logik zu bestimmen. In der Theologie halte ich es so: Die Logik gilt, soweit nicht offenbare biblische Aussage ihr entgegen stehen. Und mein Vorschlag für die übrigen Wissenschaften ist der gleiche: die Logik gilt, soweit nicht offenbare Aussagen entgegenstehen. Wenn also das Licht sowohl als Wellenbewegung als auch als Korpuskel aufgefaßt werden kann, dann hebt dies die Geltung der Logik nicht auf, so dass wir dem Kult des Absurden frönen müssten, aber es begrenzt und verunsichert sie.

2.2.3   Die Geltung der Empirie

Es liegt ebenso auf der Hand, dass die Empirie ein vom Schöpfer gegebenes Instrument der Erkenntnis ist wie die Logik. Doch Gleiches gilt auch hier: sie darf nicht verabsolutiert werden. Das heißt zunächst: Der Mensch soll seine empirischen Fähigkeiten gebrauchen und darauf vertrauen (!), dass er mit ihnen der Wirklichkeit ansichtig wird (gegen den Konstruktivismus). Aber indem er bloß Sinneseindrücke gewinnt, versteht er die Wirklichkeit noch nicht. Der Sinneseindruck bedarf der intellektuellen Verarbeitung, um zu verstehen, was man wahrgenommen hat, um es einzuordnen in das Ganze der Wirklichkeit und um Konsequenzen daraus abzuleiten. Dies ist hier die erste Grenze.

Aus menschlicher Sicht kann es Wirklichkeit geben, die empirisch nicht zu fassen ist wie die übrige geschöpfliche Wirklichkeit. Mindestens solange die Tatsache im Raum steht, dass es der Mensch bislang nicht verstanden hat, die Wirklichkeit aus sich selbst heraus zu erklären, gilt dieser Satz. Genau genommen gilt er, solange der Mensch nicht bewiesen hat, dass es eine nichtempirische Wirklichkeit nicht gibt. Diesen Beweis aber kann der Mensch nicht liefern, denn er übersteigt seine Kompetenz. Also muss menschliches Denken dafür offen sein, dass es unsichtbare Wirklichkeit gibt. Dies ist die zweite Grenze.

2.2.4   Die Bibel und wissenschaftliche Theorien

Die Wissenschaft der frühen Neuzeit teilte nicht mehr die Ansicht, die Welt sein von Geistern und verborgenen Kräften durchwaltet, sondern glaubte, dass ein vernünftiger, denkender Gott die Welt geschaffen hat und dass der Mensch den der Welt zugrunde liegenden Plan erkennen kann. Damit war der Ansatzpunkt gegeben für Theoriebildungen. Wissenschaftliche Theorien entstehen aus dem Glauben, dass die Wirklichkeit, die wir wahrnehmen, in einem sinnvollen Zusammenhang zueinander besteht, dass Kausalität und Teleonomie in ihr zu finden sind, aber dass diese nicht immer offen am Tage liegen, sondern entdeckt werden müssen. Die Wissenschaft der frühen Neuzeit war dabei zwar optimistischer als es die Bibel erlaubt, indem sie eine natürliche Theologie entwickelte und meinte, anhand der Natur Gott wirklich erkennen zu können. Sie übersah die Sündhaftigkeit des Menschen und die Notwendigkeit der Offenbarung. Aber die Denkvoraussetzung, die zur wissenschaftlichen Forschung motivierte, war richtig.

Theorien sind also für die Wissenschaft von großer Bedeutung. Sie stellen Entwürfe der Wirklichkeit dar. Doch wie sind Theorien einzuordnen. Mit dieser Frage nähern wir uns dem von Imré Lakatos vorgestellten Konzept der Wissenschaftstheorie, das uns praktikabel erscheint. R. Junker hat in einem Vortrag auf der Fachtagung Wissenschaftstheorie im November 1998 dieses Konzept vorgestellt und für die Schöpfungsforschung fruchtbar gemacht. Eine Theorie ist nach Lakatos gekennzeichnet durch die Annahme eines harten Kerns und einer variablen Schale. Junker betont, dass die biblischen Aussagen zu unspezifisch seien, um als harter Kern zu gelten. Aber sie dienen als Ausgangspunkt, um einen oder mehrere harte Kerne zu entwickeln. Zum Beispiel hat die SG Wort und Wissen anhand der Bibel das Modell der Grundtypenbiologie entwickelt, das als Theorie im Raume steht und dessen harter Kern eben die Erschaffung von Grundtypen ist, die sich im Laufe der Erdgeschichte in die verschiedenen Gattungen und Arten ausdifferenziert haben. Der harte Kern sind also Grundannahmen allgemeiner Art, die als Theorie im Raume stehen und die dem Forschungsprogramm zu Grunde liegen. Die Schale oder der Mantel sind die einzelnen Hilfshypothesen, die gemacht werden, um die Einzelbeobachtungen zu interpretieren.

Es lassen sich weitere “harte Kerne” als Theorien anhand der Schrift entwickeln. Im Blick auf die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott im allgemeinen und die Erkenntnistheorie im besonderen stellt das oben genannte Modell 3 einen solchen dar. Die Bibel ist in ihren Aussagen nicht so explizit, dass die im Modell 3 vorgetragene Sicht unmittelbar gelehrt würde. Sie muss aus mehreren Aussagen abgeleitet werden. Man kann ferner – vor allem in der Theologie – noch eine große Zahl solcher “harter Kerne” anhand der Schrift gewinnen. Aber im Blick auf Aussagen, die die Geschichte oder die Naturwissenschaft betreffen, finden wir aber nur eine begrenzte Zahl von Möglichkeiten. Das liegt daran, dass die Bibel einfach nicht so viel zu dieser Sparte sagt.

Gleichwohl ist sie in dem, was sie sagt, Autorität, denn sie ist Gottes Wort. Das heißt nun, dass sie eine Art Paradigma darstellt oder eine Art Koordinatensystem, das es erlaubt, nicht nur Wahrheit zu begründen, sondern auch, so weit es von den inhaltlichen Aussagen und von der Sache selbst her möglich ist, auch einzelne Beobachtungsdaten zu interpretieren. Damit meine ich: Wenn die Bibel eine Aussage macht, z.B. über den Fall der Mauern Jerichos, und wenn von der Sache her, also etwa einer archäologischen Erkenntnis her kein Zweifel besteht, dass ein bestimmter Fund in diesem Zusammenhang steht, dann kann eine Theorie aufgebaut werden, anhand deren sich neue Erkenntnisse gewinnen lassen. Im übrigen macht die Bibel keine Angaben darüber, wie man Archäologie zu betreiben hat. Sie sagt nichts über das wissenschaftliche Konzept der Archäologie, die Methodik der Ausgrabungen, die Systematisierung der Funde, die Theorienbildung etc. Sie gibt aber einen geschichtlichen Rahmen mit einer größeren Zahl an expliziten Details. Gleiches gilt für alle anderen Sparten der Wissenschaften. Nur in der Theologie ist nicht so viel Freiheit, weil diese ja die Bibel selbst zum Gegenstand hat und ihre Normativität für die Theologie von der Sache her ein viel breiteres Ausmaß hat.

2.2.5   Die Offenheit der Forschung

Sowohl aus den genannten erkenntnistheoretischen Gründen als auch aus der heute verbreitet akzeptierten Beobachtung heraus, dass wissenschaftliche Forschung immer in der Entwicklung begriffen ist, gilt, dass Wissenschaft auf dem breiten Feld, auf dem sie tätig ist, immer wieder an die Vorläufigkeit ihrer Ergebnisse erinnert werden muss.

Daraus ergibt sich ein Vorbehalt. Es könnte sein, dass eine Sache noch nicht weit genug erforscht ist. Von daher muss die Forschung die nötige Vorsicht walten lassen im Blick auf den Geltungsanspruch einer Aussage. Das heißt: Eine wissenschaftliche Aussage ist fehlbar, und es gelten die Gesetze zur Bewährung oder Falsifikation einer solchen Aussage. Darum ist wissenschaftliche Forschung offen. Das kann auch gelten, wenn sie formal der Bibel entspricht. Bleiben wir beim Beispiel der Mauern von Jericho: Es kann sein, dass archäologische Grabungen eine Schicht entdecken, in der viele Indizien mit dem biblischen Bericht übereinstimmen. Aber damit ist die Theorie, dass diese Schicht tatsächlich die Mauern Jerichos bietet, nicht endgültig bewiesen. Es könnte nämlich sein, dass spätere Grabungen eine tiefere Schicht zu Tage fördern, auf die der biblische Bericht erst zutrifft. Das Beispiel ist frei konstruiert und daher theoretischer Art. Aber der genannte Vorbehalt muss immer wieder bedacht werden. Er erlaubt die Konkurrenz von Theorien, die offene Diskussion, und motiviert zu eingehenderer Forschung.

3. Schlussfolgerungen

Ich fasse zusammen:

Ich habe deutlich zu machen versucht, dass im Paradigma der Heiligen Schrift ein einheitliches Erkenntnisfeld besteht. Dieses Erkenntnisfeld weist eine doppelte Orientierung auf: die Gebundenheit des Menschen im Blick auf Gott, aber die Freiheit im Blick auf die Welt. Die doppelte Orientierung begründet keine Antinomie von Glauben und Wissen, sondern eine Komplexität.

Der Mensch soll hinsichtlich seiner Rede und seiner Erkenntnis nicht eine heilige Erkenntnisebene von einer profanen oder wissenschaftlichen Erkenntnisebene unterscheiden. Die Aussage “Gott liebt die Welt” ist im selben Sinne eine Bestimmung der Wirklichkeit wie der Satz “Ich liebe meine Frau”, oder “Gott hat die Welt gemacht” wie der Satz “Das Volkswagenwerk hat mein Auto gebaut”. Inwiefern wir es bei diesen parallelen Sätzen mit einer analogen oder univoken Aussageweise zu tun haben, sei dahingestellt; das muss anderwärts untersucht werden. Dass hinsichtlich des konkreten Aussagegehalts der jeweils parallelen Sätze Unterschiede bestehen, liegt auf der Hand. Solche Unterschiede aber bestehen bereits im innerweltlichen Bereich, wenn auch in geringerem Maße. Das heißt: Gotteserkenntnis und Welterkenntnis sind nicht gegensätzlich, sondern korrespondieren einander und fügen sich im Bewusstsein des Menschen zu einem Erkenntnisfeld zusammen.

Ich will ferner deutlich machen, dass wir um des Schöpfers willen wieder Vertrauen in die menschliche Erkenntnisfähigkeit gewinnen müssen. Das ist ein Proprium christlicher Erkenntnistheorie. Sie darf sich die vom Schöpfer gegebenen Kategorien nicht weichreden lassen. Sehen ist Sehen und Logik ist Logik. Damit bewege ich mich klar im Bereich einer realistischen Erkenntnistheorie. Dass dieser Realismus kein naiver Realismus ist, haben meine Ausführungen über die Gebrochenheit des menschlichen Denkens und Erkennens aufgrund der Sünde gezeigt. Folglich ergibt sich daraus ein kritischer Realismus.

Schließlich wird auch einsichtig, dass wissenschaftliche Arbeit Gottesdienst ist, wenn sie einerseits im Hören auf die Schrift und andererseits im rechten Gebrauch von logischer und empirischer Erkenntnis geschieht. Das heißt auch, dass wissenschaftliche Arbeit eine geistliche Funktion wahrnehmen kann, nämlich jene intellektuelle Diakonie, die es einem fragenden und zweifelnden Menschen erlaubt, im Blick auf die Welt “richtig”, also im biblischen Sinn zu denken, auch wenn das wissenschaftliche Ergebnis mit einem gewissen Unsicherheitsgrad behaftet ist. Dass er dann tatsächlich richtig denkt, ist Gottes Gabe – genau so, wie er nicht automatisch zu Glauben kommt, wenn er die Bibel liest, sondern Gott ihm die Augen auftun muss, um sie zu verstehen.